TEXTE ZUR LAGE

Drei Fotos aus Almanya - Momentaufnahmen von Imran Ayata

Betrunkene Menschen haben sich zu einer Polonaise um einen großen weißen Tisch versammelt. Bunte Papierschleifen schmücken hässliche Frisuren. Die Männer auf dem Foto sind alle dick, manche haben eine Glatze. "Kartoffelfresser" eben, wie meine Eltern wohlbeleibte Deutsche nannten. An der Spitze der Polonaise posiert der Abteilungsleiter in die Kamera. "S¸ef!", wie Vorgesetzte bis heute bei vielen Kanaken heißen. Nur meine Mutter sitzt allein am Tisch und blickt ein bisschen neidisch auf die tanzende Gesellschaft. Sie zeigte mir das Foto, nachdem sie mir jahrelang versucht hatte zu erklären, dass "Deutschland scheiße" sei und die Deutschen uns wie "Menschen zweiter Klasse" behandeln würden. Davon war in der Schule nie die Rede. Wir lernten auswendig, dass alle Menschen nach dem Grundgesetz gleich seien und dass es heute keine Klassen mehr gebe. Also fand ich, dass Mutter nicht recht hatte. "Wenn du erst arbeitest, wirst du das verstehen", grüßte sie mit ihrer Lieblingsformel. Und eines donnerstags kam Vater früher von der Arbeit nach Hause. Er schwieg mit traurigen Blicken. Nachdem wir Stunden später gemeinsam Dalli Dalli gesehen hatten, erzählte der fristlos gekündigte Baba, er habe Hans-Peter verprügelt, weil er ihn "Kümmelfresser" und "Scheiß-Kanake" genannt hatte. Bum, bum, bum, Hans-Peter guckt dumm. Vay, vay, vay, dann tranken wir çay. Ich blickte zu meinem Vater und malte mir aus, wie er im Stile von Yilmaz Güney, also Çirkin Kral, dem kantigen Held türkischer Filme, die wir jeden Sonntag Mittag im Kino Capitol in der Hirschstraße sahen, seinem Kollegen ordentlich eine verpasst. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Hans-Peter auf jenem heißen Gussasphalt liegt, den sie zuvor gemeinsam verlegt hatten. Ich war ein wenig neidisch, weil meine übliche Perspektive bei Prügeleien der Blick von unten nach oben war. Nur einmal war es mir gelungen, einen Jungen, der schon vorher Thorsten Gulasch hieß, zu vermöbeln, weil er mich damit nervte, Türken seien dreckig und nur wegen des Kindergeldes in Deutschland. Tatsächlich hatte Frau Bohnenkämpfer, unsere Klassenlehrerin, einige Tage vorher nur mich gebeten, nach dem Unterricht für einen Moment länger da zu bleiben. Sie kraulte mir die Kopfhaut und suchte nach Läusen. Ich fand das Kribbeln sehr schön, weil ich ein bisschen in Frau Bohnenkämpfer verknallt war.

Richtig verliebt war ich Jahre später in Sonja Weiß, eine Kommilitonin an der Frankfurter Uni. Wir studierten gemeinsam im "Turm" Sozialwissenschaften. Ich ließ nichts aus, um ihr näher zu kommen. Besuchte langweilige Statistikseminare, weil ich wusste, dass sie daran teilnahm. Nachdem ich Sonja bei jeder sich bietenden Gelegenheit angelächelt hatte, als hätte gerade mein Lieblingsclub ein Tor geschossen, sprach sie mich eines Tages endlich an und fragte, ob ich mit ihr im Grüneburgpark joggen wolle. Ich hasse Laufen, dennoch hechelte ich an einem sonnigen Samstag über eine Stunde hinter Sonja her, weil die passionierte Runnerin mir hoffnungslos weglief. Einige Tage später flanierten wir glücklich über die Zeil und setzten uns dann in ein Café. Ein junger Paki fragte uns, ob er ein Foto von uns machen solle. Wir willigten gerne ein. Das Polaroid situativer Verliebtheit zeigte ich meiner Schwester, die fand, meine erste deutsche Freundin auf dem Bild sehe "ganz nett" aus. Sonjas Vater war besorgt, ich könnte seine Tochter zu einer Extrarunde auf der schiefen Bahn verleiten. Drogen, Kriminalität, Fundamentalismus, Terrör. Deshalb hatte er vorgesorgt. Ich durfte meine neue Flamme nicht besuchen, wenn der "Vadder" zu Hause war. Endlich fuhr er an die Ostsee, um sich mit Kameraden aus seiner alten Pfadfindergruppe zu treffen. Sonja und ich waren nun langsam über den Status des Händchenhaltens hinaus gekommen und freuten uns am zweiten Abend nach seiner Abreise auf unsere erste gemeinsame Nacht. Wir tranken Rotwein, dessen Wirkung wir leider viel zu schnell spürten. Beschwipst landeten wir in ihrem Bett und begannen, uns unerfahren zu lieben. Es war anstrengend und hatte leider nichts mit dem zu tun, was ich aus Kiosk-Romanen wie Daniela oder Angela, die voller aufregender Liebesszenen waren, kannte. Als wir wenig später müde nebeneinander lagen, sagte Sonja leise: "Du, ich möchte dir etwas sagen." Ich wollte nicht darüber reden, warum wir schlechten Sex gehabt hatten. Also schwieg ich. Doch sie hakte nach und wollte wissen, ob ich es eben auch so toll gefunden hätte. Überrascht und unehrlich stimmte ich zu. Und Sonja schien noch glücklicher. "Jetzt weiß ich endlich, warum man über euch Südländer sagt, dass ihr feurige Liebhaber seid." Wir blieben noch fast ein Jahr zusammen. Sonja stellte damals Werke von Orhan Veli und Nâzim Hikmet in ihr Bücherregal, in denen ich hin und wieder blätterte. Meine ersten echten Bemühungen, Gefallen an Literatur aus der Türkei zu finden.

Euphorie verspürten wir, als unsere Kanak-Kombo vor einem Jahr ein Berliner Theater fast 24 Stunden lang rockte. Wir hatten dabei fast keinen "Ismus" dieser Welt ausgelassen und kratzen besonders am hässlichen Gesicht des Rassismus. Dariusz erinnerte auf der Großen Bühne an Kemal Altun, der Anfang der 80er Jahre während seines Abschiebeprozesses Selbstmord beging, indem er sich aus dem Fenster stürzte. Und ein von Bärenfell umhüllter Kanake trug mit vibrierender Stimme eine Passage aus Ralph Giordanos "Ausländer wehrt Euch!" vor. Ein deutsch-türkischer Schauspieler, der in TV-Serien immer den Kriminellen mimt, echauffierte sich nach der Aufführung im Foyer des Hauses, der Bärenjunge hätte zu Gewalt aufgerufen, das sei so ewig-gestrig. Es war ein Zitat aus dem Jahr 1993 - Giordanos Deutschland nach Solingen. Darüber wollten wir ihn nicht aufklären. Das matte Filmsternchen aber gab uns den Rat, nicht in Nischen zu vergammeln. Der Filim-Milim-Ali interessierte meine Mutter nicht, als sie voller Stolz Laura zu ihrer Bühnenperformance gratulierte. Sie fand es rührend, dass "ihre Kinder" in einem Theater der Hauptstadt die "Geschichte der Klasse 2" erzählt hatten. Die beiden waren immer noch fest umschlugen und klopften sich anerkennend auf den Rücken. Ein Fotograf ließ sich diesen Moment nicht entgehen. Am Tag darauf schmückte das Foto einen Artikel in einer Berliner Zeitung. Der Autor war enttäuscht, dass er am Vorabend im Theater keine echten Ghetto-Kanaken angetroffen hatte. Er titelte mit "Caipirinha und Rassismus" und berichtete vom ungewohnten Knoblauchgeruch im Theater. Ich wurde müde. Die Kanak-Kombo macht weiter.