TEXTE ZUR LAGE

Ins Zentrum der Peripherie

Mit dem Sound der Grenzen mobilisieren die Sampling-KünstlerInnen von Ultra-red gegen das US-amerikanische Grenzregime. - Ein Interview mit Leonardo Vilchis, Gruppenmitglied und >community<-Aktivist in East Los Angeles

Die Gruppe Ultra-red aus Los Angeles ist ein Zusammenschluss von politischen und community-AktivistInnen sowie KünstlerInnen. Ihre "sound art", Performances und Videoinstallationen basieren auf den sozialen Kämpfen, in denen sie sich engagieren. Sie transformieren diese in das künstlerische und kulturelle Feld, weiten sie auf den Raum des Museums, der Plattenlabels und der Festivals aus. Ultra-red legt ihren Produktionen sound recordings von Protestak-tionen und solchen aus dem Alltag zu Grunde. In ihren künstlerischen Arbeiten und theoretischen Texten verweist die Gruppe auch auf die historischen Bezüge von sozialen Kämpfen um politische und soziale Rechte. Ultra-red existiert seit 1994. Ihre Themen reichen von Spritzenaustauschprogrammen, queer Praktiken in Parks, Stadtentwicklung und sozialem Wohnungsbau über lokale Arbeitskämpfe zu Rassismus, Migration, Grenzen und den globalisierungskritischen Protesten.

Kanak Attak: In welchem Zusammenhang stehen die globalisierungskritischen Aktionen seit Seattle mit den antirassistischen Kämpfen in den USA?

Leonardo Vilchis: Meiner Meinung nach hat die Antiglobalisierungsbewegung nicht mit Seattle angefangen. Sie hat lange vorher begonnen, und zwar mit den antikolonialistischen Befreiungsbewegungen. Das ist auch die Zeit, in der erstmals explizit Rassismus thematisiert wurde. Diese Bewegungen wurden von Leuten aus der Dritten Welt angeführt, von colored people, Leuten, die von den europäisch geprägten Ländern wie etwa den Vereinigten Staaten, Deutschland oder Frankreich als Minderheiten angesehen wurden. Ein Teil unserer Kritik an den Protagonisten von Seattle besteht darin, zu sagen, dass sie nicht repräsentativ sind für jene, auf die sie sich beziehen, jene, die sie vor den Folgen der Globalisierung bewahren wollen. Diese Kritik, die Frage nach dem impliziten Rassismus der Globalisierungsbewegung ist nun endlich in der Diskussion. Die Solidarität, die Unterstützung all dieser Leute, der Leute aus der Ersten Welt ist nötig. Aber es sollte anerkannt werden, dass der Kampf nicht in der Ersten Welt anfing. Er ging los in Afrika mit den nationalen Befreiungsbewegungen, setzte sich später zum Beispiel in El Salvador fort oder in Mexiko mit der zapatistischen Bewegung, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Gibt es denn eine Ebene der Koordination oder Zusammenarbeit zwischen Solidaritätsgruppen, der globalisierungskritischen Bewegung und Aktivisten der communities, die mehr ist als ein bloßes Zusammenkommen an Orten wie Seattle oder Genua?

Über die Bewegung im Ganzen lässt sich das schwer sagen. Ich würde ich aus meiner Perspektive sagen, es gibt einzelne Orte, an denen sich ein starkes Band von Solidarität entwickelt. Und je stärker es ist, desto größer wird auch das Verständnis für die Probleme der jeweils anderen. Nicht nur auf der lokalen Ebene, innerhalb der communities, sondern auch international. Da bewegt sich was in den Begriffen, welche die Leute sich davon machen, was Politik genannt wird, oder in der Anerkennung des Status von Flüchtlingen, der Spezifität von bestimmten Nationalitäten, Ländern und Gruppen. Aber ich denke, auf globaler Ebene ist immer noch eine Menge zu tun. Es gibt Teile in der Bewegung, die sehr paternalistisch sind oder sehr selbstbezogen, die nicht auf die Opfer dieses Prozesses hören. Und es gibt Gruppen, die versuchen sehr autonom zu sein, sehr unabhängig, nicht angebunden an die größere Bewegung. Beides finden wir falsch. Wir brauchen die Zusammenarbeit zwischen der Ersten und der Dritten Welt, zwischen dem Zentrum und der Peripherie.

Sind für Euch, im Versuch diese disparaten Teile der Bewegung mehr zusammenzuführen, Zeichen für das Entstehen einer gemeinsame Sprache zu sehen? Oder gibt es wenigstens geteilte Begrifflichkeiten für die unterschiedlichen Erfahrungen und Kontexte?

Mein Erfahrungshintergrund ist der der Vereinigten Staaten. Hier in den communities ist das alltägliche Leben der Leute der Ausgangspunkt für die Definition von Kämpfen und Themen. Beides konzentriert sich auf die Orte der Reproduktion, des Haushalts und der Nachbarschaft. Die lokalen Themen und die Leute, die sich um diese Themen herum organisieren, bestimmen die Situation. Selbstverständlich hat das alles auch mit den Produktionsbedingungen und mit Lohnarbeit zu tun. Die ganze Anti-Sweatshop-Bewegung bezieht sich eindeutig darauf, wie Leute in den Sweatshops behandelt werden, also in den Produktionsstätten. Aber die Auseinandersetzungen sind nicht mehr so streng klassenbasiert wie früher. Sie drehen sich nicht nur direkt um Arbeit. Es stehen vielmehr die Fragen von Geschlecht, Alter, community und Kultur im Mittelpunkt. Wir sehen nicht nur eine Verbindung zwischen dem alltäglichen Leben und der Kultur der community, sondern auch, wie sich all das mit der Politik, der Ökonomie und den ideologischen Ausformungen dieser Themen verknüpft. Und wir nehmen die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen der Ersten und der Dritten Welt in den Blick. Da hat sich eine Menge verändert in der letzten Zeit. Für hier lässt sich schon sagen, dass inzwischen immer mehr Menschen zu einem gemeinsamen Verständnis der Situation finden.

Ihr habt, in Anlehnung an Ansätze von Oskar Negt und Alexander Kluge und von Henri Lefebvre, ein Konzept von "Raum als Praxis" im Gegensatz zu der bürgerlichen Vorstellung von "Raum als Eigentum". Wie könnte das übertragen werden auf die Politiken der Grenzen und der Praxen, diese zu überschreiten?

Wenn du zum Beispiel nach Tijuana und San Diego schaust, gibt es dort sicher eine objektiv materielle, hart zu überschreitende Grenze. Wenn du sie in einem speziellen Moment siehst , wirst du sie für eine völlig undurchdringliche Grenze halten. Aber wenn du über längere Zeit hinweg beobachtest und wenn du auf den größeren Raum der Grenze durch das Land hindurch schaust, ist es eine sehr poröse Grenze. Ständig überquert sie jemand. Das ist ein Element davon: das Soziale. Ständig pendeln Leute hin und her, egal ob sie Papiere haben oder nicht. Aber auch kulturell betrachtet ist die Grenze zwischen Tijuana und San Diego eine völlig eigene Welt. Das ist weder Mexiko noch sind es die Vereinigten Staaten. Je näher du der Grenze kommst, desto mehr löst sich die jeweiligen nationalen Eigenheiten auf. Es gibt dort eine andere Wahrnehmung, ein Bewusstsein darüber, wo du bist. Der Raum wird durch jene Leute transformiert, die in ihm leben; das ist "Raum als Praxis". Es gibt Leute, die ohne Rücksicht auf Gesetze Menschen ohne Papiere einstellen. Die wiederum überqueren ohne Rücksicht auf Gesetze die Grenze, um Arbeit zu finden. Übrigens lernen Konservative und Republikaner, ohne Rücksicht auf ihre offiziellen Verlautbarungen, in den Vereinigten Staaten Spanisch, weil sie merken, dass das politisch notwendig ist. Allerdings lernen auch umgekehrt viele Leute in Los Angeles Englisch, obwohl eine Mehrheit dort Spanisch spricht. So verändert sich auch die Sprache. Das ist das crossfeeding der Kulturen. Das entsteht, weil wir in denselben Vierteln wohnen und zusammenarbeiten.

Das Interview führte Ellen Bareis am 11. April 2002 in Los Angeles.