P U B L I C I T Y
Mit den besten Absichten
Spuren des migrantischen Widerstands

In der antirassistischen Szene ist es mittlerweile ein Allgemeinplatz, den zivilgesellschaftlichen Multikulturalismus als Rassismus zu kritisieren. Der gesellschaftlich anerkannten Präsentation von kulturellen Unterschieden - z.B. kulinarische bei Stadtteilfesten, brasilianischer Fußballzauber in der Bundesliga - steht häufig eine antirassistische Praxis gegenüber, die versucht, rassistische Zuschreibungen durch eine andere Bewertung von migrantischen Identitäten produktiv zu wenden (z.B. hybride Gegenidentitäten, siehe hierzu die Beiträge von Hess/Lindner, iz3w 226/23, und die Kritik daran von Felix Kurz, iz3w 227 und Udo Wolter, iz3w 229). Dabei geht es um die Frage nach der (korrekten) Repräsentation von nicht-deutschen Menschen und um die Frage nach Identität und Gegenidentität. Gegen diese antirassistische Theorie und Praxis wurden im Laufe der neunziger Jahre verstärkt Stimmen laut, Stimmen, die den gängigen Antirassismus pauschal als Identitätspolitik kritisierten. Es wurde eingewandt, dass vor lauter Repräsentationspolitik die sozialen und ökonomischen Aspekte des Rassismus aus dem Blick gerieten (die so genannte Verdrängung des Sozialen).

Der folgende programmatische Text aus einem Diskussionszusammenhang der Gruppe Kanak Attak schlägt deshalb einen Perspektivwechsel vor: Die (durchaus notwendige) Kritik am Zelebrieren von Gegenidentiäten sei zu pauschal, sie führe den migrantischen Antirassismus nicht weiter. Demge- genüber sei über die Suche nach der Geschichte des migrantischen Widerstands zum einen gewährleistet, dass das verdrängte Soziale wieder in die Analyse des Rassismus aufgenommen wird. Zum anderen sehen die Autorin und der Autor in dieser Geschichte Spuren eines Widerstands, der Rassismus auf der Alltagsebene bekämpft. Diese Spuren gelte es freizulegen, um den »Kämpfen und den Menschen ihre ‚Würde' zurückzugeben.«

Migrantischen Antirassismus pauschal als »Identitätspolitik« zu kritisieren, war in den neunziger Jahren genauso verbreitet wie problematisch. Das gleiche trifft auf repräsentationspolitische Analysen des Rassismus zu. Mit großer Beliebtheit verhandelte man Rassismus allein als ideologisches Phänomen, das entweder über eine (Neu-)Bewertung der migrantischen Identitäten oder über ihre stärkere Repräsentation zu bekämpfen sei. Rassismus lässt sich aber überhaupt nicht verstehen, wenn man ihn allein als ein partikulares oder allgemeines System der Repräsentation konzipiert und die Frage nach der Herrschaft erst retrospektiv stellt. Diese Frage ist immer schon in das theoretische Konzept mit einbezogen.

Sucht man einen Ausweg aus rassistischen Verhältnissen mit einer Machtanalyse, wie sie repräsentationspolitische Analysen vorgeben, bleibt man bei dem Problem der stereotypisierenden Gruppenkonzeptionen hängen. Rassismus gilt dann als separat von anderen Herrschaftsverhältnissen für bekämpfbar, weil die Macht der diskursiven Durchsetzbarkeit der Gruppenkonstruktionen irrtümlichweise mit der Macht zur Aufrechterhaltung der Bedingungen des antagonistischen Verhältnisses, in dem sie zueinander stehen, gleichgesetzt wird. Rassistische Macht befindet sich weder im Besitz einer dominanten Gruppe, noch erschöpft sie sich in den konkreten Modi ihrer Ausübung. Sie ist in den Kräfteverhältnissen verankert, die sie kontrollieren muss, um überhaupt existieren zu können. Die aktuelle staatliche Flüchtlingspolitik zum Beispiel, ist nicht nur in ihrer Ausübung rassistisch, sie ist auch Ausdruck einer gelungenen Politik der ethnischen Stratifikation. In der reduktionistischen Machtkonzeption der Repräsentationspolitiken taucht Widerstand deshalb im besten Fall als abstraktes, appellatives oder moralisierendes Prinzip auf. Die antirassistische Praxis ist darin fortwährend im Begriff, sich zwischen Stilllegung und voluntaristischem Wunsch nach Veränderung einzuschließen.

Obwohl inzwischen als allgemeiner Topos gilt, dass Rassismus kein universalgeschichtliches Phänomen ist, bleibt in den meisten Rassismustheorien die Frage nach den historisch bestimmten politischen und ökonomischen Bedingungen offen. Rassismus, besser: Rassismen, funktionieren sowohl auf politischer, sozialer wie auf ökonomischer Ebene als Ein- und Ausschlussmodi, die sich im institutionellen System verdichten und durch staatliche Institutionen weiter ausgearbeitet werden. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass durch den staatlichen Rassismus nicht nur stereotypisierende bzw. stereotypisierte Gruppen hervorgebracht werden, sondern dass darüber hinaus auch deren Verhältnis als Antagonismus reguliert wird.

Die repräsentationsorientierte antirassistische Analyse macht einen Umweg: Sie identifiziert und autorisiert erst einmal identitäre Subjekte und Gruppen, um diese daraufhin zu dekonstruieren. Das Dilemma solcher häufig postmodern orientierter Ansätze ist, dass sie zwar die »Antworten« historisieren, aber nicht die »Fragen« auf die diese eine Antwort erst darstellen. So kommt es denn auch unter dem Motto »für und mit Ausländern Politik machen« machmal zur Bereitschaft, »kulturelle Identitäten« von Migrantinnen und Migranten zu zelebrieren. Dabei wird über die Präsentation dieser Identitäten a priori deren antirassistischer Gehalt unterstellt. Unsere Kritik des antirassistischen Wissens und seiner Ambivalenzen besteht auf einen feinen Unterschied: Man muss den migrantischen Antirassismus als einen Prozess ohne Subjekt denken und darf Widerstand nicht als einen Reflex auf Rassenkonstruktionen, sondern als konfliktuellen Prozess der Herausbildung und Entwicklung von Rassenkonstruktionen selbst begreifen. In diesem Prozess realisiert sich nicht nur der Rassismus, sondern in ihm muss sich auch der Antirassismus verorten. Rassismus darf deshalb nicht getrennt von Antirassismus verstanden werden.

Rassistischer Teufelskreis

Uns interessieren zwei Fallen dieses reduktionistischen Antirassismus, der in genau den rassistischen Teufelskreis verstrickt ist, den er durchbrechen will. Dieser entfaltet seine Wirksamkeit zum einen über seine ein- und ausschließenden Effekte. So wird beispielsweise die Bedingung der Möglichkeit einer partiellen Teilnahme der Migrantinnen und Migranten an einer antirassistischen Politik über einen unterordnenden Einschluss hergestellt. Der Antirassismus reproduziert darin zwei einander ergänzende Wahrnehmungsmuster: Migrantinnen und Migranten tauchen nur als Problem und/oder als zu beschützendes Opfer auf, in jedem Fall als Objekt.

Zum anderen funktioniert der Teufelskreis als Mechanismus, den migrantischen Widerstand als »Identitätspolitik« per se zu bewerten - sein Wissen, seine Praxen und Wirkungen an- oder abzuerkennen. Doch die abstrakte Kritik an Identitätspolitiken ist in der antirassistischen Diskussion zu einem Allgemeinplatz verkommen. Der prinzipielle Anti-Essentialismus kritisiert die im Kampf entstehenden Identitäten; der Grund ihres Entstehens und das, was sie angreifen, bleiben unerwähnt. Insofern bleibt die Diskussion um »Pro und Contra Identität« in genau dem Rassismus verfangen, der ihren Ausgangspunkt darstellt. Die favorisierten Lösungen wie »Hybridität« oder »Identitätsguerilla« verlegen ihren Ausgangspunkt auf eine Kritik der Repräsentation und ignorieren die sozialen Kämpfe gegen den Rassismus. Nicht zuletzt geben sie die vom Rassismus erzeugte Aporie an die den Rassismus bekämpfenden Subjekte als Vorwurf zurück. Der Vorwurf der »Identitätspolitik« gerät aber auch leicht zu einer Bezeichnungspraxis mit dem Ziel, die Klärung der tatsächlich problematischen Ambivalenz der auf der Basis zugeschriebener und einverleibter identitärer Herkunftsmarkierungen und minoritärer Strategien mehr oder weniger provokativer Selbstermächtigungspraxen von Migranten durch einen pauschalen Disziplinierungsvorwurf zu umgehen. Dieser Vorwurf eignet sich ideal dazu, der eigenen kulturalistischen Verstrickung offensiv zu entgehen. Die Frage wer über wen die Definitionsmacht besitzt, wird verschwiegen.1 Dabei geht die Herausforderung eines kanakischen Selbstvertretungsanspruchs verloren. Demgegenüber muss man die historischen Formen der Identitätspolitik mit den Bedingungen ihres Entstehens und den politischen Anliegen in Beziehung setzen. Man wäre nicht mehr gezwungen, Identitäten entweder (strategisch) zu akzeptieren oder aber kategorisch zurückweisen, sich zwischen Essentialismus und Nominalismus zu entscheiden, sondern kann historische Kriterien zur Beurteilung des Nutzens bestimmter Politiken entwickeln. Wir meinen, dass es darum geht, die Mechanismen, die Zwänge, die Begrenzungen und Ambivalenzen, die der migrantische Antirassismus trotz »bester Absichten« hervorbringt, betonen zu müssen.

Primat des Widerstands

Wir wollen also einen Perspektivwechsel vorschlagen. Als Bezugspunkt unserer Überlegungen im Kontext des ambivalenten Zusammenspiels von Antirassismus und Identitätspolitik ist das Primat des Widerstands immanent aus der Geschichte über die real-empirische Existenz der Ethnifizierten voranzutreiben. Der Antirassismus ist in einer Krise, die für uns mit den Formen bisheriger linker wie auch migrantischer antirassistischer Politik zu tun hat. Bezüglich der antirassistischen Kämpfe von Migrantinnen und Migranten lassen sich in den neunziger Jahren drei unterschiedliche Stränge sehr kurz und typologisch benennen.

Man könnte den migrantischen Lobbyismus als Identitätspolitik par excellence betrachten. Entstanden in den siebziger Jahren und im Kontext der Entradikalisierung migrantischer Arbeits- und Wohnkämpfe, mobilisierte eine breite Schicht von bis dato »apolitischen« Migrantinnen und Migranten kollektive Praxisformen. Der per Ausländergesetz festgeschriebene Ausschluss von politischer Partizipation, das ganze Repertoire perfider Schwierigkeiten, die die Nachkriegs-BRD den Migrantinnen und Migranten machte, die rückkehrorientierten Regulationsmodi des Aufenthaltsstatus (Saisonarbeiter, Gastarbeiter), d.h. die historisch spezifischen Formen der rassistischen Ausgrenzung, lieferten den Rahmen, in dem sich der migrantische Widerstand formieren konnte.

Für die Aktivistinnen und Aktivisten der ersten Generation boten sich zwei Möglichkeiten an, all diese Schwierigkeiten zu umgehen. Die erste bestand im Aufbau von Community-Infrastrukturen, die auf der Basis der Selbstorganisation die in der Migration entstandenen Beziehungsstrukturen mobilisierten, um etwa die »Kettenmigration« hinter dem Rücken des Ausländergesetzes (z.B. durch Familiennachzug) zu organisieren bzw. die Exilpolitik trotz ihrer anfänglichen Inkriminierung voranzutreiben. Von den Arbeitervereinen Anfang der siebziger über die Eltern-, Sport- und Kulturvereine der achtziger bis zu den stark diffamierten religiösen Vereinigungen der neunziger Jahre: Alle diese migrantischen Organisationsstrukturen spiegeln entscheidende Momente der Selbstbehauptung wider.

Die zweite Möglichkeit bestand in der Suche nach einem starken zivilgesellschaftlichen Partner (Parteien, Gewerkschaften, paritätische Wohlfahrtsverbände, Kirchen). Im Rahmen der zivilgesellschaftlichen Institutionen ließen sich jedoch die institutionalisierten Wirkungen des Rassismus durch die Unterordnung lobbyistischer Forderungen unter die übergeordneten Interessen der Großinstitutionen selten neutralisieren. Durch eine Mixtur von ritualisierter Stellvertreterpolitik und selektiver »Integration« von Minderheitenaktivistinnen alias Vorzeige-Kanaken - meistens Angehörigen der inzwischen herausgebildeten kanakischen Mittelschicht - kulminierte dieser Prozess der selektiv-repräsentativen »Integration« in der Zivilgesellschaft in einer Affirmation identitärer Zwangsverhältnisse für alle. Trotz der eindeutigen Verdienste des kanakischen Lobbyismus, blieb dieses gegenidentifikatorische Selbstbehauptungskonzept der »steinernen Jahre« auf die einfache Umkehrung seiner Zuschreibungsformen angewiesen, um überhaupt bestehen zu bleiben. Die absoluten Grenzen dieses kanakischen Pazifismus dokumentierte jüngst die Unfähigkeit, die Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts zu verhindern.

Eine andere Form antirassistischer Politik trägt das Label »Selbstorganisierung«. Die Präsenz »selbstorganisierter Migrantinnen« bei den Antira-Plenen Anfang der neunziger Jahre sorgte für die dubiosesten Beschuldigungen seitens der linken Antira-Aktivistinnen. Die Vorwürfe der anti-essentialistischen Linken gegen die selbstorganisierten Gruppen wie FeMigra, Antifa Gençlik, Café Morgenland, KöXüs u.a. reichten von Separatismus bis zu »umgekehrtem Rassismus«.

Die »Selbstorganisierung« versuchte Anfang der neunziger Jahre sich gegen die alltäglichen Formen des Rassismus zur Wehr zu setzen. Mit dem praktizierten Recht auf Selbstverteidigung wurde jede Form der Entmündigung seitens des linken deutschen Antirassismus und der zivilgesellschaftlichen Komplizenschaft kanakischer Lobbyisten aufgekündigt, die versucht hatten, über die »richtigen« und »angemessenen« Formen des Widerstands paternalistisch zu belehren. Das Konzept der »Selbstorganisierung der Migrantinnen« geht auf zwei wichtige Momente der Konstituierung radikaler migrantischer Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungsstrategien zurück. Ende der achtziger Jahre und im Kontext feministischer Politmilieus kündigten feministische Migrantinnen demonstrativ die Zusammenarbeit auf und thematisierten zum ersten mal den Rassismus der Linken. Parallel dazu und im Zuge einer Politikwende innerhalb der radikalen türkischen Exil-Linken formierten sich migrantische Aktionszusammenhänge, die sich von der Exilpolitik abwandten und den Rassismus in Deutschland zur Hauptaufgabe ihrer Politik machten. Antifaçist Gençlik wendete anfänglich diesen Ansatz erfolgreich in Kreuzberg an und erreichte einen hohen Mobilisierungsgrad unter kanakischen Jugendbanden, die sich der aktiven Selbstverteidigung anschlossen.

Der Antagonismus zwischen Täterkollektiv und Migrantinnen und Migranten bildete den Ausgangspunkt politischer Gegenidentifizierung. Oft wurde der Widerstand auf eine Reaktion gegen den Rassismus reduziert. Die anti-deutsche Haltung, die in ihrer letztlichen Einschätzung des Rassismus und der damaligen politischen Konjunktur grundsätzlich richtig war, verhinderte es, die Entwicklungen zu historisieren und legte sie auf eine abstrakte Kritik fest, die zwar kurzfristig politisierend wirkte, auf Dauer aber den sich auch in der Reaktion auf den Widerstand wandelnden Funktionsweisen des Rassismus nichts Elementares entgegensetzen konnte. Ende der neunziger Jahre gerieten die Übriggebliebenen durch ihren selbstgerechten Solipsismus und durch ihre Selbststilisierung als Opfer in die Krise. Die politisch begründete Gegenidentifikation geriet ins Identitäre. Damit wurden den Widersprüchen der Status von Spaltungen verliehen und die Kritik auf der Basis eines moralistischen Wahrheitsmonopols belassen, das für die Analyse der Kräfteverhältnisse nicht herhalten konnte.

Ende der neunziger Jahre hörte man im Zuge der allgemeinen Kulturalisierung plötzlich von einer Kanak Chiceria, die einige Titel der Sonderausgaben von Zeitungen vor allem im Zusammenhang mit der Berliner Republik schmückte. Auf einmal sollte es jene geben, die es trotz Rassismus und gegen ihn geschafft hatten, zu einigem Ansehen oder (finanziellem) Erfolg zu kommen. Man muss festhalten, dass es das bisher noch nicht gegeben hatte. Unabhängig davon, ob die Protagonistinnen und Protagonisten durchaus ihre Zähne öffentlich fletschen dürfen, werden sie meist auf ihr Musterschülerdasein reduziert2, woran sie nicht ganz unschuldig sind. Der von vielen gehegte Wunsch, selbst endlich einen anerkannten Platz in Almanya haben zu können, lässt sie sich gerne von der Geschichte der Migration abkoppeln und so tun, als seien sie vom Himmel gefallen. Und der ist gegen jede Realität multikulturell. Authentisch ist man zwar immer noch, aber nicht mehr authentisch anders, sondern authentisch hybrid. Mit Migrantenkultur hat das wenig zu tun, viel dagegen mit dem Zerrbild einer angeblich hybriden Kultur. Und die glaubt man im Sinne einer Innovation der Gesellschaft erfolgreich repräsentieren zu können. Die Chiceria gibt vor, etwas anderes als die Kanaken zu sein, etwas anderes zu repräsentieren, wobei sie eigentlich gar nichts repräsentiert, außer ihr eigenes Vorankommen. Was in Almanya nicht wenig ist. Sie interessiert sich in den meisten Fällen nicht für die Politik, die für sie nur jene rassistische Erniedrigungen bietet, die sie ohnehin erfahren. Rassismus ist für sie ein Tabu, über das man besser nicht spricht.

Grenzen der Gegenidentifikation

Die rassistischen Herrschaftsverhältnisse haben sich im Verlauf der neunziger Jahre verändert und eine Hierarchisierung der Migrantengruppen befördert. In dieser Transformation entstanden in direkter oder indirekter, kollektiver oder individueller Auseinandersetzung die erwähnten migrantischen Identitätskonzeptionen, die man alle als Formen der Gegenidentifikation bezeichnen könnte. Innerhalb der jeweiligen Kräfteverhältnisse artikulieren sie die Frage nach gesellschaftlicher Veränderung nicht als Frage nach Identität oder nach Veränderung an sich. Sie sind vielmehr als Suche nach einer Veränderung zu verstehen, in der immer wieder und immer anders die Bedingungen der Möglichkeit eines besseren Lebens in rassistischen Verhältnissen und gegen sie gefunden werden sollen.

Die Geschichte der migrantischen Kämpfe in den neunziger Jahren zeigt aber auch die Grenzen einer solchen Politik. In Folge der Zuschreibungen, denen sie sich ständig ausgesetzt sehen, als Objekte, als Opfer oder als in der Differenz-Butik Almanya erfolgreiche »Andere« entwerfen sie gegenidentifikatorische Positionen, die auf den Skandal einer Politik der Authentisierungsprozesse durch Identitätskontrollen reagieren, indem sie die Semantiken des Ethno-Erkennungsdienst umkehren, positiv besetzen oder einfach negieren. Auf diese Weise sind sie aber nicht im Stande, die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen der rassistischen Herrschaft - den Kapitalismus - zur Sprache zu bringen. Identitätspolitik gegen Rassismus zu wenden hat keine organisierende Kraft, da beide in der kapitalistischen Gesellschaft produziert werden. Antirassismus kann deshalb nicht als Gegen-Identifikation zum Rassismus fundiert werden. Die Übernahme durch Migrantinnen und Migranten hat aber den Charakter einer entscheidenden Veränderung. Es ändert sich nicht nur das Subjekt des Antirassismus, sondern auch der Antirassismus selbst. Bei diesem verwickelten Prozess stellt sich die Frage: Was vom bisherigen Antirassismus der Migrantinnen und Migranten wollen wir beibehalten und verteidigen? Die Antwort muß heißen: jene Elemente, welche die Identifikationen beseitigen müssen, um bestehen zu bleiben. Insofern geht es uns um eine Kritik der Kritik und um eine Veränderung der herkömmlichen Veränderungen.

Damit versuchen wir nicht den Freispruch von allen Effekten der Identifizierungen, sondern wir sprechen von einer Transformation der Identifizierungen innerhalb einer Praxis. Eine Beurteilung dieser Transformation lässt sich jedoch nicht durch theoretische Überlegungen - durch eine Theorie des Widerstands etwa - begründen. Es gibt keinen Ausweg als den Kampf gegen die rassistische Herrschaft, und es gibt ihn, weil er nichts anderes ist als die Geschichte der Migrantinnen und Migranten als Gruppe selbst. Und es ist diese Geschichte, der wir uns mit unserem Projekt unter anderem annehmen wollen.

Geschichte des migrantischen Widerstands

Der Widerstand von in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten gegen Rassismus wurde immer wieder gewaltsam unterbrochen. Im unserem Versuch, diese Brüche aufzuzeigen, sollen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in seiner Geschichte zum Ausdruck kommen. Migrantinnen und Migranten haben hier und da versucht, den Rassismus einzudämmen, aber sie sind nie soweit gekommen, das System zu durchbrechen und sich von der Unterwerfung seiner Zwänge zu befreien. Das ist offensichtlich. Es gilt also eine Geschichte der Möglichkeiten und Grenzen dieses Kampfes zu entwickeln. Damit soll der Gegenwart des Widerstands ein historisches Wissen der Vergangenheit zugänglich gemacht werden. Was wir versuchen, ist eine Geschichte aufzuspüren, die niemals geschrieben wurde.

Wir können hier nur thesenhaft einige Grundlinien dazu entwickeln. Zunächst sind es die unterschiedlichen Bedingungen der Einwanderung, die bestimmte Merkmale des sozialen, politischen und ökonomischen Status festschreiben. Die juristische Kategorisierung und Objektivierung durch das Ausländergesetz bestimmt die soziale Position von Migrantinnen und Migranten und damit auch die Bedingungen ihres Widerstands bis heute mit. Ebenso wie man davon ausgehen kann, dass Rassismus sich nicht immer durch explizit rassistische Handlungen und Artikulationen manifestiert, muss man auch bei Migrantinnen und Migranten nicht unbedingt unterstellen, dass ihr Widerstand sich immer explizit gegen Rassismus richtet, sondern Teil anderer sozialer Kämpfe war und ist. Die unterschiedlichen Formen des aktiven und passiven Widerstands werden also historisch nicht notwendigerweise als antirassistische Praxen durchgeführt.

In den meisten Fällen des migrantischen Widerstands handelt es sich um Kämpfe gegen Autoritäten, die im strukturellen und individuellen Sinne unmittelbare Kämpfe gegen Machtinstanzen (Vermieter, Behörden, Arbeitgeber etc.) sind. Sie bewirken Lösungen, die manchmal auch nur eine situative Verbesserung der Lebensverhältnisse bedeuten können. Da der rechtliche Status eine politische Tätigkeit zumindest einschränkt oder erschwert, vermuten wir, dass gerade der Alltag eine exponierte Rolle spielt - hier wurden und werden laufend Formen des Widerstands erprobt und verworfen. Die in unorganisierten und individuellen Handlungen, in den »unsichtbaren« Bereichen des Lebens - im Alltag - praktizierten Widerstandsformen müssen nicht gleich als politische erkannt werden, sondern sind häufig Teil von Selbstbehauptungs- und Überlebensstrategien. In diesen Versuchen drückt sich eine Fähigkeit der Migrantinnen und Migranten aus, (sich) zu begreifen und (sich) zu verändern. Man kann davon ausgehen, dass es sich bei diesen »alltäglichen« Kämpfen keineswegs immer um eine »bloße« Verteidigung bzw. Wiederherstellung des Status Quo handelt, sondern sie können durchaus für eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse stehen. Es geht uns also auch um die Wirkungen, die der Widerstand auf die Widerständigen selbst hat, wie er ihren Alltag verändert und in welchen Momenten ihnen Veränderungen möglich erscheinen.

Es besteht allerdings eine Lücke zwischen den Möglichkeiten, Vorstellungen und Wünschen der damaligen Kämpfe und der heutigen. Wir wollen uns nicht zu Chronisten und Märchenerzählern machen, es geht uns nicht um Ahnenkult oder Heroisierung, auch wenn es an der Zeit ist, den Kämpfen und den Menschen ihre »Würde« zurückzugeben. Aber ohne die Einschätzung gegenwärtiger Verhältnisse und inzwischen erworbener sozialer Positionen, ohne eine Neubewertung und Dynamisierung der Übermittlungen geht nichts. Man wird nicht einfach zu den Widerstandspraktiken von früher zurückkehren können, sondern muss von der eigenen Geschichte lernen und sie so transformieren, dass man die Hindernisse überwindet, die sowohl durch die »Fehler« wie durch das »Verschweigen« hervorgebracht wurden. Die Wiederentdeckung dieser Geschichten ist nicht nur subjektiv von außerordentlicher Bedeutung.

Wir müssen versuchen, die Geschichte umzudrehen. Die Kämpfe von Migrantinnen und Migranten wären dann nicht allein als Reaktion auf die verschiedenen staatlichen und gesellschaftlichen rassistischen Praxen zu lesen, sie entwickeln vielmehr eine davon unabhängige Dynamik. Der Rassismus bleibt auch nicht derselbe, er restauriert nicht einfach repressiv die alte gesellschaftliche Ordnung, die durch Revolten zerrissen wurde. Denn auch wenn der Widerstand niedergeschlagen wird, muss sich der Rassismus auf neue Weise restrukturieren und konsolidieren. Widerstand und Herrschaft gehen von den gleichen Voraussetzungen aus, versuchen das gegnerische Terrain zu besetzen und zu kolonisieren, indem sie durch Reinterpretation entgegengesetzte Antworten auf dieselben Fragen geben. Man ist gezwungen, in jedem Aspekt der herrschenden Ordnung auch die Umrisse, die Inhalte und die Bedingungen des Widerstands zu entdecken, denn nicht nur durch die »guten« Seiten des historischen Prozesses findet Geschichte statt, sondern vor allem durch die »schlechten«.

Wir wollen die bestehende Geschichtsschreibung nicht um eine andere, »wahre Geschichte« ergänzen. Wir können nicht die Geschichte des Widerstands für die Bundesrepublik beschreiben. Es geht aber darum, den historischen Entwicklungsweg eines Widerstands nachzuzeichnen, der hier und da dem Rassismus bereits die Grundlagen entzogen hat und sie ihm auch künftig entziehen soll. Wir können diese Geschichte aber niemals vollständig erzählen, ebenso wie wir die rassistische Situation damals und heute für uns nicht vollständig erfassen können, sie überschreitet unseren Verstand. Dagegen hilft nur eine antirassistische Praxis, die auch die Machtverhältnisse unter den Migrantinnen und Migranten zu verändern vermag.

Anmerkungen:

1  Vgl. Laura Mestre Vives: »Wer, wie über wen? - Eine Untersuchung über das Amt für multikulturelle Angelegenheiten.« Pfaffenweiler 1998
2  Vgl. Imran Ayata: »Heute die Gesichter, morgen die Ärsche.« In: Spex, November 1999

iz3w, September 1999
von Manuela Bojadzijev
und Vassilis Tsianos