TEXTE ZUR LAGE

Die Integrationsfalle
Zur Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft
Von Manuela Bojadžijev, Klaus Ronnerberger

Der bis vor kurzem von konservativer Seite vertretenen kontrafaktischen Behauptung, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, wurde von anderer Seite immer wieder die Faktizität der Einwanderung gegenübergestellt. Mit der Einführung der Green Card für IT-Spezialisten gaben die Einwanderungsleugner diese Behauptung dann jedoch ohne große Aufregung auf. Mittlerweile soll - erstmalig in der Geschichte der BRD - ein Einwanderungsgesetz formuliert werden. Dabei verbinden die im Verlauf der neunziger Jahren geführten Debatten um die Doppelte Staatsbürgerschaft ein Integrationsangebot für die bereits seit vielen Jahren in diesen europäischen Staaten lebenden Migrantinnen und Migranten mit einer neuen restriktiven Einwanderungspolitik.

In der Vergangenheit ist oft versucht worden, die Logik aufzubrechen, die Migration in ein kausales Verhältnis zum Rassismus in Deutschland rückt. Rassismus wird keineswegs durch die Präsenz von Migrantinnen und Migranten ausgelöst, noch hat er etwas mit deren Zuwanderung zu tun hat. Rassismus ist viel mehr als eine eigenständige Logik bürgerlicher Herrschaft zu verstehen. Allerdings findet Einwanderung von Migrantinnen und Migranten nach Deutschland sowie in die Europäische Union primär unter rassistischen Bedingungen statt, wie auch ihr Alltag häufig durch rassistische Diskriminierungen gekennzeichnet ist. Neben den reichhaltigen Ausländergesetzen ist es auch das Staatsbürgerschaftsrecht, das die (Nicht-)Zugehörigkeit und Rechtslage der Migrantinnen und Migranten reglementiert.

Die erste Kontroverse um die Doppelte Staatsbürgerschaft Anfang der neunziger Jahre begann nach den rassistischen Morden in Mölln und Solingen und im Zuge der Debatten zur faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993. Gerade in der türkischen Community, aber nicht nur dort, riefen die Brandanschläge Wut und Proteste hervor. In dieser gesellschaftspolitischen Situation speiste sich die Initiative für eine doppelte Staatsbürgerschaft aus sehr unterschiedlichen Motivlagen: Einerseits galt es die wachsende Kritik aus dem Ausland an den rassistischen Pogromen zu entkräften ("Deutschland ist ausländerfreundlich"), anderseits wuchs aber auch die Befürchtung, dass sich Teile der Migrantinnen und Migranten radikalisieren und außer staatlicher Kontrolle geraten könnten. Ausgehend von den Grünen und einigen Personen aus FDP und SPD wurde die Forderung auch von einigen Migrantenverbänden aufgegriffen. Ende des Jahres 1992 verschärfte die Drohung des damaligen Bundeskanzlers Kohl, den Notstand aufgrund der steigenden Asylbewerberzahlen auszurufen, die politische Situation derart, dass sich die SPD auf einen Deal einließ: Für ihre Zustimmung zur Asylgrundgesetzänderung forderte sie die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft und ein Einwanderungsgesetz. Wobei letzteres schon damals eine Kontingentierung der Einwanderung meinte.

Die lancierte Kampagne lief unter dem Motto "doppelte Staatsbürgerschaft" plus "erleichterte Einbürgerung" - das ius soli wurde dabei nur vorsichtig eingeklagt. Die doppelte Staatsbürgerschaft sah man als Voraussetzung für eine Erleichterung der Einbürgerung an. Das Ziel dieser Kampagne bestand nicht nur in der rechtlichen Gleichstellung von Ausländern und Deutschen, sondern umfasste auch Forderungen für Ausländer im Arbeits- und Sozialrecht und in Fragen der Freizügigkeit. Der Entwurf der SPD, den 1993 der Innenausschuss diskutierte und ablehnte, enthielt im wesentlichen die Einführung des Territorialprinzips für die Angehörigen der dritten Generation, die Aufgabe der Differenzierung zwischen ehelichen und nicht-ehelichen Kindern, die Schaffung eines Einbürgerungsanspruchs für die Angehörigen der zweiten Generation, die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit und die Schaffung eines Einbürgerungsanspruchs für mit Deutschen verheiratete Einbürgerungsbewerber, der von der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit unabhängig sein sollte. Bei den BefürworterInnen dieses Gesetzesentwurfs, etwa bei den Ausländerbeauftragten von Berlin und Hamburg, stand in dieser Sache insbesondere der Imperativ der Integration im Vordergrund.

Die Debatte um die Doppelte Staatsbürgerschaft Ende der neunziger Jahre Kurz nach dem Regierungswechsel kam das Thema doppelte Staatsbürgerschaft wieder in die Diskussion. Welche Gründe veranlassten die Koalition zu der Gesetzesinitiative Anfang 1999? Der Öffentlichkeit gegenüber führte man unter anderem die Notwendigkeit der Angleichung an westeuropäische Standards an. Auf dem Weg zu einem "modernen und weltoffenen Deutschland" galt die Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts als Teil eines rot-grünen Modernisierungsprojekts. Gleichzeitig drückte der Vorschlag eine beliebte Form des Paternalismus aus: Aus Freundlichkeit für die geleistete Arbeit sollte ein Teil der hier lebenden Ausländer endlich mit der Einbürgerung belohnt werden. Diese Gefälligkeit verdankte sich allerdings auch dem Umstand, dass bereits die Kampagne Anfang der neunziger Jahre entsprechende politische Forderungen erhoben hatten. Der eigentliche Dreh- und Angelpunkt für den Reformvorschlag bestand allerdings in einem spezifischen Integrationsbegriff, mit dessen Verwendung die beiden Seiten ihre politischen Positionen in der Debatte artikulierten.

Integration meinte hier vor allem, dass ein bestimmter Teil der Bevölkerung auf Dauer nicht außerhalb der staatlichen Gemeinschaft stehen darf, weil sonst der "innere Friede" bedroht sei. Zentral war in dieser Debatte das Bild von den explosiven Ghettos. Der strukturellen Segregation von Migrantinnen und Migranten wird in dem Fall eine Sprengkraft zugeschrieben, die es mit Hilfe moderner Integrationspolitik zu entschärfen gilt. Aus dieser Perspektive sollte die Einbürgerung als ein Mittel der gesellschaftlichen Einbindung dazu beitragen, eine Fundamentalisierung oder Radikalisierung von Ausländern zu verhindern. Das war durchaus auch als eine Warnung an die Mehrheitsbevölkerung zu verstehen: Gelinge es jetzt nicht die Ausländer zu integrieren, seien zukünftig gesellschaftliche Konflikte (etwa rassistische Gewalt) unvermeidbar. Im Kern geht es bei Integration weniger um die Beseitigung von Ungleichheit oder eine grundlegende Transformation der sozialen und ökonomischen Ordnung, sondern vor allem um die Vermeidung von sozialen Unruhen und den Erhalt der sozialen Kontrolle.

Während in dem Modell von Rot-Grün der Pass entscheidend zum Integrationsprozess beitragen sollte, wollten die Konservativen die deutsche Staatsbürgerschaft nicht vorab als Bonus, sondern erst als späte Belohnung für angepaßtes Verhalten vergeben. Integration in diesem Sinne meint die vollständige Assimilation der MigrantInnen. Das Vorhandensein eines Konsenses über die "Leitkultur" gilt dabei als entscheidende Voraussetzung für den "inneren Frieden". Auch auf dieser Seite fehlte die Warnung vor einer drohenden Separierung der Migranten nicht. Unabhängig davon, ob in der Frage des Doppelpasses eine zustimmende oder ablehnende Position vertreten wurde, galt in der Debatte die Auflösung von "Ausländerghettos" als Bedingung und Voraussetzung für eine gelungene Integrationspolitik.

ZÜ Integration...

Die Integrationsmetapher war der Schlüssel sowohl für die konservative Seite wie auch für Rot-Grün. Ein Vorteil des Begriffs liegt darin, dass er Ausgleich und Gerechtigkeit assoziiert und den Herrschafts- und Kontrollanspruch ausblendet. Beide Seiten gingen, wenn auch mit unterschiedlicher Betonung, von einem Assimilationsmodell aus, in dem Menschen klassifiziert und nach ihrer Nützlichkeit für die deutsche Gesellschaft sortiert wurden: Sei es im Sinne einer willigen Arbeitskraft, als kulturelle Bereicherung oder gar zum Zweck demographischer Verjüngung. Der Integrationsbegriffs umfaßte aber eine gewisse Spannbreite. Der rot-grünen Koalition meinte vor allem eine funktionale Einbindung von Migrantinnen und Migranten im Sinne einer präventiven Pazifizierung. Bei den GegnerInnen zielte die Figur der bedrohten Integration auch auf die Befindlichkeit der "Deutschen", wie es etwa in einem CSU-Papier nachzulesen war: Die Doppelstaatsbürgerschaft würde von vielen Deutschen als Benachteiligung empfunden, löse nur Aggressionen aus und schüre deshalb die Ausländerfeindlichkeit. Mit ihrer Unterschriftenkampagne gegen eine Einführung des Doppelpasses gelang es den Konservativen, eine Homogenität der deutschen Gesellschaft zu behaupten. Die angeblich einigende und prägende Kraft der "gemeinsamen deutsche Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur" brachten sie in einen Gegensatz zum Islam und zu einer "Demokratieunfähigkeit" von AusländerInnen. Wesentliche Grundrechte im Sinne der Verfassungstradition sollten Deutschenrechte bleiben.

Die rot-grüne Koalition unterschätzte mit ihrer Gesetzesinitiativen offenbar völlig, wie wenig dieses "Minderheiten-Thema" (Bundeskanzler Schröder) auch in der eigenen Anhängerschaft auf Zustimmung stieß. Zudem hatten die Regierungsparteien die Debatte um den Reformvorschlag weitgehend entpolitisiert führen wollen. Dass es um Grundrechte für MigrantInnen ging, tauchte nur am Rande auf. Die CDU wiederum griff vor allem die Aufweichung des Blutsrechts an und sie erhob ihre Kampagne zu einer Abstimmung über "Lebensformen" und die "Kultur der Deutschen". Der lancierte Integrationsbegriff verhinderte zudem eine Gegenmobilisierung auf der Straße, weil er auf sozialen Frieden setzte und eine politische Polarisierung zu verhindern suchte. Angesichts der Komplexität des Themas - so der Tenor - dürfe die Sache nur im Parlament verhandelt werden.

Das inzwischen verabschiedete Gesetz ist kein "historischer Einschnitt", wie seine BefürworterInnen behaupten, sondern eine Festschreibung des schlechten Zustands. Allein die in Zukunft hier geborenen Kinder ausländischer Eltern erhalten die doppelte Staatsbürgerschaft - allerdings nur bis zu ihrem 23. Lebensjahr. Und das ist nach Inkrafttreten des Gesetzes also frühestens im Jahr 2018. Darüber hinaus werden diejenigen AntragstellerInnen, für die der Doppelpass eine Erleichterung bedeutet hätte, zusätzlich mit Verschärfungen belegt: Sie sollen ihren Lebensunterhalt ohne Arbeits- und Sozialhilfe bestreiten können, deutsch "ausreichend" beherrschen und sich zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen.

Integrationsfalle

"Integration" entwickelte sich spätestens seit Ende der siebziger Jahre mit dem Memorandum des ersten Ausländerbeauftragten der Bundesregierung Kühn 1979 zum maßgebenden Stichwort für die "Ausländerpolitik" der Bundesrepublik. Im Laufe der siebziger Jahre entwickelte die SPD das sozialtechnokratische Modell der partiellen Integration, das insbesondere die Kinder der "Gastarbeiter" zu erfassen versuchte. Die CDU/CSU denunzierte diesen Ansatz damals noch als "Zwangsgermanisierung der Türkenkinder" und sprach sich für eine "rückkehrorientierte Integration" aus.

Erstmals wurden in dem Memorandum von Kühn die Arbeitsmigranten und -migrantinnen und die nach ihnen geborenen Generationen als eine Gruppe gekennzeichnet und objektiviert, von der befürchtet wurde, dass sie einen sozialen Konfliktstoff darstellen könnte, der durch präventive Maßnahmen entschärft werden soll. Der Migrationsdiskurs artikulierte sich nun in zweifacher Hinsicht als Problemdiskurs: Zum einen ging es bis vor kurzem noch um Maßnahmen, die sich gegen den Status eines Einwanderungslandes richteten, zum anderen verstärkten sich im Verlauf der neunziger Jahre Forderungen nach einem Eingliederungsprogramm, um befürchtete Desintegrationsfolgen für die Gesellschaft zu verhindern. Das Paradigma der Integration enthält bis heute zum einen eine staatliche Fürsorgelogik für Migrantinnen und Migranten, mit gleichzeitiger Verweigerung politischer und zum Teil auch sozialer Rechte (Versammlungsrecht, Residenzpflicht, etc.). Zum anderen schließt sie aus den Diskussionen komplett den Bereich der Migration aus, der für die Ökonomie in der Bundesrepublik nicht erst seit den neunziger Jahren eine erhebliche Bedeutung gespielt hat, nämlich den Bereich der illegalisierte Einwanderung. Der Integrationsimperativ lässt sich getrost auf die Formel bringen: "More cooperation for less immigration!" Das immer wieder beschworene Szenario von der Nicht-Assimilierbarkeit bestimmter Einwanderergruppen, in dessen Konsequenz nur bestimmten Gruppen Einwanderung gestattet werden soll, lässt dabei den Interaktionsprozess zwischen restriktiven Einwanderungsbestimmungen und deren Einfluss auf die Daseinsberechtigung bereits niedergelassener Migranten außer acht. Denn die selektiven Einwanderungsregulierungen, die an der Herkunft und dem Nutzen der künftigen ImmigrantInnen ansetzen, definieren unmittelbar den Kreis der (künftig) Unerwünschten. Damit wird auch mittelbar die legitime Anwesenheit derer, die bereits eingewandert sind und zur Gruppe der Unerwünschten gehören, in Frage gestellt.

ZÜ: Gleich in die Ungleichheit

In der Konstruktion jedes Staatsbürgertums ist der Aspekt der Gleichheit immer präsent, während er gleichzeitig mit einem hierarchischen Prinzip verbunden ist. Die Gleichheit steht dabei im Konflikt zwischen Staatsbürgertum und einer Untergebenheit unter einen faktischen Staat. Dabei erweist sich die Annahme, über Integration ließe sich dieses hierarchische Verhältnis langsam abbauen, als irrig, da ja gerade in ein hierarchisches Verhältnis hinein integriert werden soll. Die Konstruktion jedes Staatsbürgertums stiftet auch Gemeinsinn und Gemeinschaft, unterwirft also auch jene Deutschen noch, die als nicht-integriert gelten. Deutlich wird das, wenn provokativ argumentiert wird, dass auch Deutsche, die kriminell werden, nach der Logik des Ausländergesetzes abgeschoben werden sollten. Die Alternative erscheint dann nur noch zwischen: 'Bürgerrechte für alle' oder 'Ausländergesetze für alle'. Das Integrationsparadigma definiert in diesem Zusammenhang, wer dazu gehört und wer nicht, wer wie Zugang finden darf zu Recht und Ressourcen. Der unterscheidend wirkende Effekt dieser rassistischen Ausschließung ist, wie sich zeigt, keine definitive Exklusionskonstante. Rassismus kann durchaus integrativ wirken, allerdings asymmetrisch, das heißt die strukturierende Modalität der Inklusion einer als "Ethnie" konstruierten Gruppe impliziert schon ihre Ausgrenzung. Die Integration wird so zu einer Bedingung von Ausgrenzung.

Auffällig an den Kontroversen um Integration im Zusammenhang mit der Forderung nach doppelter Staatsbürgerschaft ist die sehr verhaltene Repräsentation und Partizipation von Migrantinnen und Migranten, und dies, obwohl in diesem Rahmen ihr rechtlicher und politischer Status in der Gesellschaft maßgeblich verhandelt wird. Die Institutionalisiertheit einer fehlenden politischen Partizipation durch die Kopplung von Nationalität und Bürgerrechten und die diskursiven Verengung der Integrationsmetapher macht es fast müßig darüber zu lamentieren, da sie diese selbst voraus- und fortsetzen. Selbst gutmeinende Konzeptionen von Integration, die "Unterschiedlichkeit" abfeiern und letztlich Assimilation meinen, haben keine Transformation der Machtstrukturen im Sinn, auf die die Debatte um Integration negativ verweist.

Die bisherige Politik gegenüber Migrantinnen und Migranten hat sie in vielen Staaten Europas zu sogenannten "ethnische Minderheiten" werden lassen mit allen dazugehörigen Merkmalen der fehlenden Beteiligung an politischen Rechten, Schwierigkeiten bei der Religionsfreiheit, rechtlichen Diskriminierung bei der Bewerbung um Arbeitsplätze, Überkonzentration in schlechten Wohngegenden, erhöhter Jugendarbeitslosigkeit, spezifische Regelungen für Berufsausbildung und Schulbesuch, strenge strafrechtliche Verfolgung, Verlangsamung des sozialen Aufstiegs, Verarmung. Eine Thematisierung dieser Inhalte kann nur politisch ausgetragen werden, wenn die diskursive Verengung selbst zur Sprache gebracht wird. Dann erst könnte danach gefragt werden, welche Versprechungen mit dem Integrationsangebot bzw. -zwang gemacht werden, das heißt in Frage zu stellen, inwieweit das Versprechen geht, eben jene Unterwerfung, die es perpetuiert, abzubauen.