TEXTE ZUR LAGE

Kommentar zum Zuwanderungsgesetz

Manuela Bojadžijev, Tobias Mulot und Vassilis Tsianos

Die rot-grüne Koalition trat 1998 mit dem Versprechen an, die "Einwanderungsfrage" zu modernisieren und den Status der hier lebenden Migrantinnen und Migranten durch ein neues Staatsbürgerschaftsmodell zu verbessern: ein Paradigmenwechsel hin zur regulierten Einwanderung, der allerdings seinen Vorläufer im 1992 zwischen den Fraktionen der christlich-liberalen Regierungskoalition und der SPD im Rauch der Brandsätze ausgehandelten euphemistisch bezeichneten "Asylkompromiß" hat. Die Ebene der legislativen Aushandlung antizipierte bereits die Konturen des Konflikts, der jetzt die aktuelle Migrationsdebatte prägt. Denn der unausgesprochene Gegenstand des "Reformprojekts Einwanderung" war schon 1992 ein umfassendes, zum ersten Mal seit dem Anwerbestopp 1973 anvisiertes Gesetzespaket zur generellen Steuerung der Migration in Deutschland. Die Demontage des Asylrechts fand aufgrund einer Reihe von Vereinbarungen eine breite parlamentarische Mehrheit: Einbürgerungserleichterungen für die "zweite Generation", die Reform des Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts, die Einschränkung und jährliche Quotierung der "Aussiedlermigration", die rechtliche Absicherung von Vertrags- und Saisonarbeitern und - last but not least - die Option auf eine kommende "Regelung zur Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung" in Form eines Einwanderungsgesetzes. Unter dem Terminus "Asylkompromiß" firmierte also in Wirklichkeit nichts anderes als der erste "Migrationskompromiß" der deutschen Nachkriegszeit, und als solcher war er eine wirkungsmächtige Vorlage für die aktuellen rot-grünen Modernisierungspläne.

Die nun also geplante Umsetzung des Vorhabens, das selbst in den Reihen der SPD umstritten blieb, scheiterte schon bald an einer bundesweiten Unterschriftenaktion der CDU, die darauf abzielte, wesentliche Grundrechte im Sinne der Verfassungstradition weiterhin als exklusive Rechte der Deutschen festzuschreiben. Nach dem Wahlsieg der Konservativen in Hessen verschwand die Frage der Einwanderung zunächst von der politischen Agenda der Bundesregierung, und die angestrebte Reform der Staatsbürgerschaft kollabierte in einem "Kompromiß" mit einer Reihe von ausländerrechtlichen Verschlechterungen.

Erst ein Jahr später gelang es Bundeskanzler Schröder mit der Einführung der Green Card das Thema Einwanderung wieder ins Spiel zu bringen. Es handelte sich dabei um eine modernisierte Variante des altbekannten "Gastarbeitermodells". Indem der Kanzler seine Initiative als Einwanderungsbegrenzungsmodell für Hochqualifizierte vorstellte, schien es wieder möglich - mit dem expliziten Verweis auf die Stärkung des "Standorts Deutschland" und einer partiellen Öffnung im europäischen Migrationsregime im Zuge der postfordistischen Wende (vgl. hierzu Frank Düvell in Heft 1/2000) -, einen sogenannten pragmatischen Umgang mit der Einwanderung zu finden.

Allerdings bleiben die Pfade dieser migrationspolitischen Wende notwendig verschlungen. Während Otto Schily mit der rassistischen Metapher der "Grenze der Belastbarkeit" hantierte, um die ohnehin schwache linke Opposition im eigenen Lager prophylaktisch zu disziplinieren, rief er zusammen mit dem Kanzler die außerparlamentarische "Süßmuth-Kommission" für Zuwanderungsfragen ins Leben. Primär war sie eine politische Reaktion auf die Kritik an der zögerlichen Haltung gegenüber der Einwanderungsgesetzgebung in der linksliberalen Presse und in den eigenen Reihen. Die Strategie versprach, die Debatte über Zuwanderung geschickt aus der Koalition auszulagern und stabilisierte gleichzeitig die diskursive Hoheit über die Migrationsfrage, indem Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände eingebunden wurden.

Das Recht auf Einwanderung, kein Einwanderungsgesetz!

Nach einer kurzen Phase sommerlicher publizistischer Euphorie stellte sich im vergangenen Jahr heraus, daß die junge Koalitionshegemonie über die "Migrationsfrage" nur über weitgehende Zugeständnisse an den Modernisierungsflügel der CDU, der sich um den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller gruppierte, zu erlangen war. Mit der Vorlage seines "Referentenentwurfs" im August letzten Jahres brachte es Schily fertig, die migrationspolitischen Modernisierungsvorschläge der Süssmuthkommission mit seinem "Zuwanderungsgesetzesentwurf" zu umgehen. Die Chiffre Zu- und nicht Einwanderungsgesetz illustriert die zugrunde liegende Steuerungsprogrammatik. Tatsächlich geht es weniger um Zuwanderung als um eine umfassende Neuregelung des Ausländerrechts, die Fragen des Aufenthalts, der Erwerbstätigkeit und Integration - all in one - regelt. Die als innovativ propagierte Vereinfachung der Aufenthaltstitel ist nur nominell, da der Zugang zur neuen "Niederlassungserlaubnis", die einen dauerhaften Aufenthalt sichert, durch die Abschaffung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und durch verschärfte Anforderungen massiv erschwert wird. Für einen Großteil der 1,7 Millionen Migrantinnen und Migranten mit befristeter Aufenthaltserlaubnis wird die Verlängerung so fast unmöglich gemacht.

Es scheint als hätten die konziptiven Ideologen des Abschiebeapparats akribisch alle Punkte aufgelistet, die Migrantinnen und Migranten bis jetzt als Schlupflöcher nutzten und die eine relative Autonomie der Migration gegenüber der staatlichen Politik bedeutete. So bewirkt die Abschaffung des Duldungstitels für 250.000 - darunter nicht nur abgelehnte Asylsuchende - nichts anderes als Illegalisierung. Die noch von der Süssmuth-Kommission empfohlene Legalisierungsregelung, die sich auf etwa 1,7 Millionen Migrantinnen und Migranten bezogen hätte, fällt weg. Die bisher stets als gesonderter Bereich behandelte Flüchtlings- und Asylpolitik wird in das Modell der Zuwanderungssteuerung einbezogen. Der Imperativ der Integration, auf den sich scheinbar alle einigen, rückt an zentrale Stelle.

Tatsächlich impliziert der Begriff "Integration" einen Politikwechsel, der über das Zuwanderungsgesetz hinausweist: 1. Die Integrationsmaßnahmen werden auf eine zentralstaatliche Steuerungsebene gehoben. 2. Im Gegensatz zu alten Sozialstaatskonzepten (und dem Multikulturalismus-Ansatz der achtziger Jahre) ist gar keine Rede mehr von politischen und sozialen Rechten bzw. vom Ausgleich komparativer Defizite etwa bezüglich Bildung und sozialer Partizipation. Die Regulation wechselt die Richtung: Die Gewährung von Rechten wird an vorab zu erbringende individuelle Leistungen gebunden. Zwar werden Kurse angeboten; sie sind allerdings am ehesten mit den Zwangsqualifizierungsmodellen zu vergleichen, mit denen seit Jahren Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger belästigt werden. Wird dort ständig mit der Drohung der Leistungskürzungen oder dem Entzug von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gearbeitet, so wird den Migrantinnen und Migranten mit der Beendigung des "Aufenthalts" gedroht.

Interludi

Zwischenzeitlich schien aufgrund der allgemeinen Empörung über den NYC 9/11-Day der Referentenentwurf allerdings vom Tisch gewischt. Wie sollte unter den zu Integrierenden der Schläfer erkannt werden? Otto Schily präsentierte im Geiste eines fieberhaften legislativen Aktionismus als Sofortmaßnahme zwei gesetzliche Initiativen, die ganz offensichtlich schon längst in den ministerialen Schubladen gelegen hatten: die Ergänzung des Strafgesetzbuches um einen §129b und ein Gesetz zur Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsrecht. Dem folgte das zweite Anti-Terror-Paket, mit dem die Rechtspositionen der zum Sicherheitsrisiko Nr. 1 erklärten Migrantinnen und Migranten erneut massiv verschlechtert wurden. Unter dem Deckmantel der "Terrorbekämpfung" gelang es Schily, ausländerrechtliche Verschärfungen, die eigentlich Teil des Zuwanderungsgesetzes sein sollten, vorab durch den Bundestag zu bringen. Konkret geht es um die erweiterte Definition des "Mißbrauchs des Gastrechtes". Gemeint sind die im Abschiebejargon verfassten Ergänzungen unter dem Stichwort "besondere Versagungsgründe" im Aufenthaltsverlängerungsverfahren. Sie ermöglichen es, selbst jenen die Aufenthaltsgenehmigung oder deren Verlängerung zu verweigern, die eigentlich einen Anspruch hätten. Die mit dem Paket II geschaffenen neuen Internierungsmöglichkeiten in sogenannten "Ausreisezentren" korrespondieren mit einer Perfektionierung der Erhebung, Übermittlung und Nutzung von Daten hier lebender Migrantinnen und Migranten ("Ausländer", "Sans Papiers" und "Eingebürgerte"): De facto wird so das Recht von mehr als 10 Millionen Menschen auf informationelle Selbstbestimmung aberkennt. Autonomie der Migration? Die Analyse dieses Kurswechsels war notwendig, um das Terrain zu identifizieren, auf dem Widerstand entstehen könnte. Der Schily-Entwurf erkennt in ganz spezifischer Weise die relative Autonomie der Migration an, wie an dem Versuch einer umfassenden Zuwanderungssteuerung abzulesen ist. Autonomie der Migration bedeutet, daß sich Einwanderung - historisch betrachtet - nicht hat ohne Weiteres von staatlichen Politiken beeinflussen lassen. Die Proklamation der Autonomie der Migration war in den antirassistischen Diskussionen im Verlauf der neunziger Jahren relativ beliebt. Der Vorteil bestand zum einen darin, die Behauptung entkräften zu können, Deutschland sei kein Einwanderungsland, zum anderen konnte auf diese Weise der Abschottungs- und Regulierungspolitik der bundesdeutschen Regierung ein nicht rein defensives Argument entgegen gehalten werden. Yann Moulier Boutang hatte 1993 in einem Interview angemerkt, daß es einen sehr Ernst zu nehmenden "subjektiven Faktor" gibt, der das Gehen oder Bleiben von Migrantinnen und Migranten beeinflußt und der nicht unter staatliche Regulierungskontrolle gebracht werden kann: "Das ist anscheinend schwierig zu kapieren, aber trotzdem wichtig; auch wenn sich Myriaden von Experten und Beamten in den Behörden und staatlichen und internationalen Einrichtungen mit der Emigration beschäftigen, haben sie keine Ahnung von dieser (...) Autonomie der Migrationsflüsse. Sie haben vielmehr die Vorstellung, daß alle miteinander verbundenen Faktoren und Phänomene auf die Wirtschaftspolitik zurückzuführen und daher nur Gegenstand der verwaltungsmäßigen Regulierung wären. Natürlich wird bei diesem Denkansatz die Objektivität der Politik und speziell der Wirtschaftspolitik grotesk überschätzt, es wird völlig vergessen, daß es eine Eigendynamik der Auswanderung gibt. Man kann zwar der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der Immigranten 'fördern', aber man kann nicht die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen und sperren." (Yann Moulier Boutang, Interview, in: Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5, Berlin/Göttingen 1993, S. 38)

Was Moulier Boutang hier als "schwer zu kapieren" bezeichnet, wird nun erstmals, im Regierungswissen etabliert und in Führungstechnik übersetzt. Die Initiative der rot-grünen Bundesregierung für ein Einwanderungsgesetz besteht - nach Einführung der sogenannten Green Card-Einwanderung - in dem Versuch, eben diese Autonomie staatlich unter Kontrolle zu bringen und zu kanalisieren. Auch Peter Müller von der CDU hat dem zugestimmt: "Trotz restriktiver Bestimmungen und Kontrollen ist es bisher nicht gelungen, das unkontrollierte und weitgehend ungesteuerte Nebeneinander unterschiedlichster Zuwanderungsgruppen zurückzuführen, geschweige denn in einem bedarfsgerechten, arbeitsmarkt- und sozialverträglichen Gesamtkonzept der Einwanderung aufgehen zu lassen. Die Gesamtschau der Einwanderungspolitik in Deutschland ergibt vielmehr ein unbefriedigendes Mißverhältnis der erwünschten gegenüber unerwünschten Zuwanderungstatbeständen." (Peter Müller, Von der Einwanderungskontrolle zum Zuwanderungsmanagement 1.7 2001) Für ein antirassistisches Verständnis dieser Prozesse genügt die Feststellung einer Autonomie der Migration eben darum nicht. Moulier Boutang präzisiert seine Überlegungen in einem später erschienenen Text noch einmal im Hinblick auf einen Angriff gegen die rassistische Segmentierung des Arbeitsmarkts und ein gesichertes Grundeinkommen. Gerade in Zeiten der Arbeitslosigkeit, gehe es um das Recht auf Freizügigkeit, das Recht, ein Einkommen zu haben, das Recht auf ein Leben, im allgemeinen Sinne des Wortes, unabhängig vom Herkunftsland und Besitz eines Arbeitsplatzes. Boutang versucht mit dieser Perspektive, die Grenzen der Kämpfe aufzuzeigen und zu überschreiten. Es geht hier sowohl um die allgemeine Unterhaltsleistung als auch um die allgemeine Staatsbürgerschaft. (vgl. Yann Moulier Boutang, "Papiere für alle", in: Die Beute, 1/1997, S. 54)

No integration! Legalisation! We insist!

Bezogen auf die gegenwärtige Situation und die Konjunkturen der Auseinandersetzungen um Rassismus in den neunziger Jahren ist festzustellen, daß sich der Angriff auf Migrantinnen und Migranten in einem doppelten Schweigen manifestiert: auf der einen Seite das beredte Schweigen des Integrationsimperativs, der, wie ein Gegen-Recht, die Aufgabe erfüllt, unüberwindbare Asymmetrien einzuführen und Gegenseitigkeiten auszuschließen; auf der anderen Seite das Schweigen über die mehr als 2 Millionen anwesenden Migrantinnen und Migranten ohne Papiere. Einerseits erkennt der Gesetzesentwurf an, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist und daß alle Abschottungsmaßnahmen und Schikanen nicht verhindern konnten, daß es stets faktisch Einwanderung gab. Andererseits wird im Gesetzesentwurf erneut versucht, Einwanderung staatlicher Steuerung zu unterwerfen.

Die neuen Widersprüche sind absehbar, es wird weiterhin Einwanderung geben, die sich der Steuerung entzieht. Die Feststellung, daß die Autonomie der Migration bzw. ihre Geschichte in die gegenwärtige Konjunktur eingeschrieben ist, bedeutet nicht nur, daß wir aus der "Geschichte" und den Erfahrungen "derjenigen vor uns" lernen müssen. Es geht um mehr: die Kämpfe sind auch dort "anwesend", wo sich ihre Niederlagen manifestiert haben: in den Ausländer- und Staatsbürgerschaftsgesetzen, in der geplanten Gesetzesinitiative zum Einwanderungsgesetz, aber auch in den widerständigen Alltagspraktiken der Migrantinnen und Migranten. Insofern birgt die Durchsetzung der Verrechtlichung der relativen Autonomie der Migration mit dem Ziel gesteigerter nationalstaatlicher Kontrolle politischen Sprengstoff. Diese staatliche Politik begibt sich mit dem Versuch der Verrechtlichung und Steuerung der Migration auf für sie ungewisses Terrain: Sie greift in das instabile Gleichgewicht von Gleichheit und Freiheit innerhalb der nationalen Gemeinschaft ein, in die Trennung von Volk und Nation. Während im deutschen Gesetzentwurf zur Zuwanderung auf Basis des Integrationsimperativs die Ausschlußbarriere des Nation bildenden Staatsvolkes weiterhin aufrechterhalten wird, zeichnet sich auf europäischer Ebene eine Tendenz ab, Staatsbürgerschaft von diesen hergebrachten Konzepten abzukoppeln. Das Projekt des europäischen Zusammenschlusses, der eigentlich einem Einschluss gleichkommt, verbindet jedoch Mittel der präventiven Aufstandsbekämpfung an den Rändern des Migrationsregimes - also an den Grenzen, die inzwischen Europa nicht nur umfassen, sondern auch durchziehen - mit einem Prozeß der rassistischen Stratifikation im Inneren. (Vgl. Etienne Balibar, Topographie der Grausamkeit. Staatsbürgerschaft und Menschenrechte im Zeitalter globaler Gewaltverhältnisse in Subtropen, 12/2001, S. XX)

Angesichts dieser Veränderungen geht es zunächst um die Frage nach Kollektivrechten für Einwanderer. Kollektivrechte können zur Vervielfältigung der Freiheiten von Subjekten beitragen, deren kollektive widerständige Praxen ohnehin die systematische Vereinzelung durch die verallgemeinerte Struktur der Ausschließung untergraben. Realisiert werden sollte eine Legalisierung der hier lebenden Migrantinnen und Migranten ohne Papiere und eine Politik, die dem herrschenden Integrationsimperativ die bereits existierenden Widerstandspraxen entgegensetzt und politische und soziale Rechte unabhängig von jeder Staatsbürgerschaft einfordert. So könnte eine radikale Politik hinsichtlich des Rechts auf Einwanderung jene Leistungsdispositive untergraben, die Migrantinnen und Migranten nur nach ihrer Arbeitskraft be- und verwertet. Antirassistische Arbeit läßt sich aus dieser Perspektive indessen nicht auf Fragen von Rassismus begrenzen, sondern muß Wohnverhältnisse, Bildungsmisere, Ausbeutung und Geschlechterverhältnisse zur Sprache zu bringen, d.h. ganz einfach: den unterschiedlichen Lebensaspekten von Migrantinnen und Migranten, ihrem und unserem Alltag und Widerstand zu entsprechen.