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Deutschland entnazifizieren!
Forderungen an die Bundesregierung und Landesregierungen

1951 beschloss der Deutsche Bundestag, dass die von den Alliierten auferlegte, im Grundgesetz vorgeschriebene Entnazifizierung der deutschen staatlichen Institutionen beendet werden soll. Personelle Kontinuitäten in Gesellschaft, Kultur, Presse, Ökonomie, Jurisdiktion und Politik blieben in den folgenden Jahrzehnten erhalten, struktureller, insbesondere ein offener und verdeckter Rassismus, sowie Einstellungen, die rechte Gewalt verharmlosen reichen bis heute.

Nachdem 2011 bekannt geworden ist, dass eine Organisation, die sich zum Nationalsozialismus bekennt, jahrelang rassistische Morde begehen konnte und staatliche Institutionen offensichtlich in einem bisher noch nicht bekannten Ausmaß involviert waren, fordern wir die konsequente Entnazifizierung Deutschlands. Damit meinen wir vor allem die Anerkennung des Rassismusproblems in Deutschland. Die existierende Rassismusforschung hat Rassismus in Deutschland bereits als ein strukturelles Problem analysiert. Die Heitmeyer-Studie und die Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen deutlich, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Rund jeder zweite Deutsche ist der Meinung, es gebe "zu viele Ausländer" in Deutschland. Die Islamfeindlichkeit in Deutschland steigt, der Antisemitismus hält an. Rassismus manifestiert sich nicht nur am Rande der Gesellschaft, im rechten Terror, sondern spiegelt sich auch im Denken und Handeln der Personen wider, welche in staatlichen Institutionen tätig sind, wie zum Beispiel dem Innenministerium, der Polizei oder dem Verfassungsschutz. Rassismus ist kein neues Phänomen in Deutschland, sondern hat eine lange Tradition. Aber welche Schritte sind gegen schleichende Akzeptanz rassistischen Denkens in der Mitte der Gesellschaft unternommen worden? Ein wichtiger Schritt für eine kritische Auseinandersetzung wäre eine Ausweitung dieser Forschung und die Publikmachung, öffentliche Diskussion und offizielle Anerkennung des Rassismus und seiner kolonialen Traditionen in Deutschland - in deutschen Schulen wird die Kolonialgeschichte Deutschlands immer noch nicht gelehrt, kaum einer kann aufzählen, wie viele Kolonien Deutschland hatte. Die Erforschung soll durch die entscheidungsrelevante Mitarbeit von Vertreter_innen betroffener Gruppen erfolgen. Darunter verstehen wir unter anderem: Migrant_innen- Selbstorganisationen, Minderheitenorganisationen und von diesen Institutionen anerkannte Wissenschaftler_innen aus der Rassismusforschung, sowie antifaschistische Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Gerade Deutschland hätte sich auf Grund seiner historischen Verantwortung dem Rassismusproblem klar und konstruktiv öffnen müssen.

Gleichzeitig liegt auch in Deutschlands Vergangenheit der Schlüssel, diese Auseinandersetzung anzugehen. Eine Offenlegung aller NS-Verbindungen von staatlichen Institutionen wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Strukturen werden von Menschen gestaltet. Mit einer Offenlegung sämtlicher Biografien, in denen sich die Verbindungen zum Nationalsozialismus zeigen, lassen sich auch die Kontinuitäten zu Deutschlands rassistischer Vergangenheit erkennen. Die Strukturen sind kritisch zu überprüfen und zu reformieren. Insbesondere sind die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder, das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst durch unabhängige, transparent arbeitende Institutionen zu überprüfen. Wir fordern Dezernate für rassistisch motivierte Delikte, diese hätten schon viel früher zu einer Aufklärung der Morde der Rechtsterroristen führen und sogar Leben unschuldiger Menschen retten können. Die Aufklärung soll gegenüber der Gesellschaft transparent erfolgen und alle Informationen sollen für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Beim kleinsten Verdacht auf eine rechte Motivation muss der Fokus darauf gerichtet werden.

Noch immer gibt es keine befriedigenden Stellungnahmen der Bundesregierung und Landesregierungen warum die Zahl der rassistisch motivierten Morde von öffentlicher Seite klein geredet wird. Wir erwarten eindeutige Stellungnahmen von der Bundeskanzlerin, vom Bundesinnenministerium und von den Ministerpräsidenten der jeweiligen Länder zu sämtlichen Fällen, insbesondere, wie sie zu der Einschätzung von "nur" 48 Tötungsdelikten mit rechter Tatmotivation gegenüber der 182 von der Amadeu-Antonio-Stiftung ermittelten kommen, sowie ihrer Untersuchung. Auch Fälle vor 1990, die in offiziellen Statistiken bisher nicht vorkommen, sind zu berücksichtigen. Ein unabhängiges Gremium kann hier für Aufklärung sorgen. Nach einer ernsthaften Aufklärung der Zusammenhänge sind entsprechend personelle Konsequenzen zu ziehen. Ähnlich wie es bei der rassistischen Ermordung von Stephen Lawrence, einem jungem Schwarzen Mann, in England der Fall war. Fünf Jahre nach dem Mord wurde in England die Macpherson-Kommission ins Leben gerufen, ein unabhängiges Gremium, welches einen Bericht erarbeitete. Mit dem Ergebnis, dass Scotland Yard bei den Ermittlungen auf dem rechten Auge blind war.

Und die Kommission veröffentlichte Empfehlungen, wie institutioneller Rassismus in den Sicherheitsbehörden und in der Gesellschaft bekämpft werden kann. Die beste Methode sich dem Rassismus in Deutschland zu stellen, ist nicht ihn zu verdrängen, sondern sich offen und klar diesem Problem entgegen zu treten. Die Bezeichnung der NSU-Morde als "Dönermorde" ist nur ein Beispiel zahlreicher rassistisch geprägter medialer Darstellungen. Eine unabhängige Media-Watch-Stelle kann eine rassistische Grundprägung durch die Medien verhindern. Daher sehen wir die Einrichtung einer solchen nach dem Vorbild des britischen Ofcom (Independent regulator and competition authority for the UK communications industries), als dringend erforderlich. Eine unabhängige Media-Watch-Stelle erarbeitet antirassistische Richtlinien, deren Einhaltung in Zusammenarbeit mit dem Presserat kontrolliert wird. Medien reproduzieren tagtäglich Bilder, in denen Menschen, die eigentlich durch Rassismus benachteiligt sind, als Kriminelle, als Tatverdächtige dargestellt werden.

Deutschland bedarf ganz dringend eines aktiven Abbaus von institutionellem Rassismus. OECD Untersuchungen zeigen, dass Teilhabechancen, etwa beim Zugang zu Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt abhängig vom nationalen oder ethnischen Hintergrund sind. Hier brauchen wir die Implementierung von Anti-Diskriminierungsgesetzen (wie bereits von der EU vorgeschrieben) und eine Abkehr von einer restriktiven Einwanderungspolitik. Zudem fordern wir kontinuierliche Sensibilisierung und Schulung der Mitarbeiter_innen des öffentlichen Dienstes in Bezug auf Anti-Rassismus und Anti-Diskriminierung.

Der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland bedarf einer erheblich stärkeren und dauerhaften Finanzierung von Antidiskriminierungsstellen, antifaschistischen Initiativen und zivilgesellschaftlichem Engagement gegen Rassismus (anstelle von Hindernissen wie die 'Extremismusklausel'). Oft wird erwartet, dass antirassistisches Engagement von Migrantinnen- Organisationen ehrenamtlich erbracht wird. Auch ist dies ein Ausdruck dafür, welchen geringen Wert die Gesellschaft der Bekämpfung des Rassismus beimisst - Nazis gibt es nur, weil diese Gesellschaft sie zulässt. Rassismus auf ein Problem zwischen Nazis und Migranten zu reduzieren, heißt die Realität dieses Landes zu verkennen und der Verantwortung aus dem Weg zu gehen. Wir sollten die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds nicht mit noch mehr Gleichgültigkeit strafen. Ihr Tod sollte unser Leben, unser Denken, unser Handeln nicht unverändert lassen. Deutschland und die deutsche Bundesregierung muss etwas gegen den wachsenden alltäglichen Rassismus in der Gesellschaft unternehmen: Deutschland muss sich ENTNAZIFIZIEREN.

23.02.2012

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