Rede zur Gedenkfeier des Brandanschlages Mölln
gehalten am 23. November 2011 in Mölln von Imran Ayata
Liebe Familie Arslan, liebe Familie Yilmaz, liebe Anwesende, meine Damen und Herren,
ich weiß noch wie heute, wie mich die Nachricht von einem
neuerlichen Brandanschlag, dieses Mal in Mölln, erreichte. Als
ich in Frankfurt am Main davon hörte, wusste ich nicht, wo
dieser Ort liegt. Zuerst dachte ich in der ehemaligen DDR, weil
uns damals aus den neuen Bundesländern ständig Nachrichten
von rassistische Anschlägen und Übergriffen erreichten. Es
muss der 24. November 1992 gewesen sein, als ich von dem
furchtbaren Verbrechen hörte und nebenbei lernte, dass Mölln
in Schleswig-Holstein liegt. Noch immer denke ich zuallererst an
diesen Brandanschlag, wenn mir Mölln begegnet, auch wenn ich
irgendwann keine konkreten Bilder mehr von diesem Anschlag
vor Augen hatte, welche aber durch die heutige Veranstaltung
wieder in Erinnerung gerufen wurden. Aber auch ohne diese
Bilder werde ich Mölln ohne Ihr Schicksal, liebe Familie Arslan
und liebe Familie Yilmaz, nicht denken können.
Mölln markiert eine wichtige Zäsur. Denn spätestens nach dem
feigen und menschenverachtenden Anschlag musste es den
meisten in Almanya klar gewesen sein, dass wir es nicht mit
einem regional eingrenzbaren, temporären Auswuchs zu tun
haben, sondern einer gesellschaftlichen Gefahr begegnen
müssen, die uns alle betrifft. Ich meine damit Rassismus in
seiner ganzen Bandbreite - von rassistischen Morden über
institutionelle Diskriminierung und Ausgrenzung zu alltäglichen
Diffamierungen, die Menschen hier erleben, weil sie nicht
Deutsche sind oder für solche gehalten werden, selbst wenn sie
längst die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben
oder hier geboren sind.
Ihr Schicksal und mein Werdegang sind miteinander verknüpft,
und das, obwohl wir uns bis heute gar nicht kannten. Denn es
waren die Brandanschläge von Rostock-Lichtenhagen,
Hoyerswerda, Solingen und eben auch Mölln, die mich und
meine Generation so sehr prägten. Sie ließen in uns nicht nur
Trauer und Wut aufkommen, sondern waren Warnung und
Aufforderung zugleich, eine neue Sprache zu finden, just als
viele der Sprachlosigkeit das Wort redeten, als nach der
Wiedervereinigung Häuser in Deutschland brannten. Wegen
dieser Anschläge in Mölln und anderswo verbannten wir Begriffe
wie Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit aus unserem
Sprachgebrauch. Was in Almanya passierte, bedurfte neuer
Begriffe - zum Beispiel eines Begriffes wie Rassismus. Vor allem
erforderte es eine neue Haltung, die sich rassistischen Debatten
und Handlungen in der Gesellschaft stellte.
So gründeten sich im Laufe der 90er Jahre neue Initiativen und
Gruppen, die selbstbewusst und mutig sich nicht nur in die
politischen Debatten einbrachten, sondern intervenierten,
Forderungen artikulierten, die zuvor nicht geäußert worden
waren.
Ich selbst war mit vielen anderen bei Kanak Attak aktiv, eine
Organisation, die so mutig war, vieles in Frage zu stellen, was
uns in Schulheft geschrieben worden war. Wir formulierten neue
Positionen und erzählten die Geschichte der Migration aus der
Perspektive der sozialen und anti-rassistischen Kämpfe.
Als Kanak Attak 2001, also fast zehn Jahre nach dem
Brandanschlag von Mölln, an der Volksbühne in Berlin mit einer
Revue diese Geschichte auf die Bühne brachte, waren die
Erfahrungen und Lehren aus den Brandanschlägen von einst
sehr präsent, auch und gerade deswegen, weil in der
Öffentlichkeit dies in Vergessenheit zu geraten schien oder
inzwischen als ein Relikt der Vergangenheit eingestuft wurde.
Für uns war und bleibt Ihre Geschichte, liebe Familien Arslan
und Yilmaz, Teil unserer Geschichte.
Denn, dass ich selbst Texte schreibe, Artikel und Bücher
veröffentliche, hat den Ursprung letztlich auch darin, was im
November 1992 in Mölln passierte.
Ich denke, Schreiben hat damit zu tun, etwas zu sagen zu
haben.
Und spätestens nach Mölln und Solingen hatten ich und
meinesgleichen wirklich etwas zu sagen, zum Beispiel, dass wir
nicht mehr gewillt sind, uns mit der uns zugewiesenen Rolle
abzufinden. Wir wollten keine Stichwortgeber von
Scheindebatten sein, die uns nicht weiterbrachten. Deswegen
forderten wir das Ende der Dialogkultur, die Ungleichheiten
festschrieb und mehr oder weniger alles ausschloss, was
gleiche Rechte oder gleicher Zugang zu gesellschaftlichen
Ressourcen hieß. Sehen wir mal davon ab, ob und wie
erfolgreich all die politischen Bemühungen waren. Unbestritten
ist, dass die Post-Mölln-Solingen-Hoyerswerda-Generation sich
Häppchen erkämpfte und Einzelne vorne wegschwammen, weil
es inzwischen eine neue Währung gab, die zum Ausdruck
brachte, wie Migranten Deutschland bereicherten. Auch wenn
die allermeisten Bereicherer mit Migrationshintergrund es selbst
viel zu schnell vergessen, ihre Erfolge im Kulturbetrieb oder in
der Politik sind mit den Ereignissen der 90er Jahre verbunden,
davon bin ich überzeugt. Das gehört, wie ich finde, zu den
Widersprüchen unseres Lebens in Almanya.
Ich vermute, es gibt keinen richtigen Trost für das, was Sie
erlebt haben. Aber es ist mir ein Bedürfnis, es Ihnen – liebe
Familie Arslan und liebe Familie Yilmaz - auf diesem Weg zu
sagen:
Wir sind die, die wir sind, weil es Sie gibt.
Deswegen habe ich auch keine Sekunde gezögert, als ich
gebeten wurde, die Rede in Erinnerung an den Brandanschlag
in Mölln zu halten.
Glauben Sie mir, bei der Vorbereitung dieser Rede ging mir
einiges durch den Kopf. Es fiel mir nicht leicht, den richtigen
Ton zu finden, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden
und eine Ansprache zu wählen, die dem Anlass gerecht wird.
Jetzt, da ich zu Ihnen spreche, bin ich mir immer noch nicht
sicher, ob mir das gelingt. Unabhängig davon war mir eines
sofort klar: Ich würde nicht einfach über das Geschehene reden,
über die Vergangenheit, über das Gestern, sondern auch über
die aktuelle Situation und das Heute - selbst wenn die NSU und
der Selbstmord der Neonazis in Zwickau in der Zwischenzeit
nicht bekannt geworden wäre.
Für den einen oder anderen mag das altmodisch oder nicht
mehr zeitgemäß erscheinen. Ich werde in diesem Punkt stur
bleiben und diesen Standpunkt weiterhin vertreten:
Ohne das Gestern ist der Blick auf das Heute verstellt.
Wenn wir aber das Heute klarer sehen wollen, können wir nicht
Mölln und die 90er Jahre verdrängen oder vergessen. Jede Rede
von der Einwanderungsgesellschaft ist ohne diese Geschichte
eine unvollständige. Leider wird genau diese Geschichte viel zu
häufig ignoriert.
Nehmen wir einmal das Beispiel der Feierlichkeiten zum 50.
Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und
der Türkei. Natürlich ist es nicht weiter überraschend, wenn bei
dieser Gelegenheit beide Staaten die Erfolge der Einwanderung
herauszustellen versuchen. Es ist auch nicht ungewöhnlich,
dass Medien dieses Ereignis dafür nutzten, für einige Wochen
Migranten und ihrem Leben in Deutschland größeren Raum
einzuräumen. Fast immer ging es dabei um erfolgreiche
Migranten. Diese Geschichten sollten zum einen dokumentieren, dass Integration erfolgreich verlaufen kann und
zum anderen Vorbild und Blaupause für andere sein, sich ihren
Weg in Deutschland zu bahnen.
Dass es aber keine Debatte über die Lebensbedingungen von
Migranten gab, hat viele Gründe, die ich hier nicht darlegen
kann. Aber lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine
Frage streifen: Wie kann es sein, dass wir ein historisches
Ereignis feiern und dabei Geschichte, als eine Erzählung mit
guten und schlechten Kapiteln, mit Siegen und Niederlagen, mit
schönen und schrecklichen Bildern, so einseitig behandeln? Wie
kann es nahezu ohne Zwischenruf und Gegenrede gelingen,
beim 50. Jubiläum des Anwerbeabkommens Mölln, Solingen,
Hoyerswerda usw. unsichtbar und unbenannt zu lassen?
Ich fürchte, dass ist nicht nur staatlicher und politischer
Ignoranz geschuldet, sondern hat auch damit zu tun, dass viele
derer, die in den 90er Jahren und später im Feld des Anti-
Rassismus tätig waren, es heute nicht mehr sind oder nicht
mehr öffentlich durchdringen. Abseits der offiziellen
Feierlichkeiten und der Berichterstattung zu diesem Jubiläum
wurden aber auch die Schattenseiten der
Einwanderungsgeschichte nach dem Anwerbeabkommen
aufgegriffen.
In diesem Zusammenhang will ich mit Ihnen eine Erfahrung
teilen. Gemeinsam mit dem Münchner Künstler Bülent Kullukcu
habe ich im Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße, die 50-
jährige Geschichte der Einwanderung aus der Türkei in einer
musikalischen Erzählung präsentiert. So spielten wir
beispielsweise Gastarbeiterlieder der ersten Stunde, machten
auf die Anfänge der HipHop-Kultur aufmerksam und zeigten in
einer Sequenz auch die Ereignisse aus Rostock, Solingen und
Mölln. Die Stimmung im Theater war plötzlich eine andere.
Bülent und mir war, als ob die einen sich angegriffen fühlten
und andere sehr betroffen waren. Die Reaktionen nach der
Aufführung bestätigten unsere Vermutung. Tatsächlich wiesen
uns einige Gäste darauf hin, dass es nicht nötig gewesen sei,
ihnen diese Schattenseiten von einst vorzuhalten. Das war gar
nicht unsere Intention. Wir wollten nur deutlich machen, dass
diese Brandanschläge einen Platz haben müssen, wenn wir über
Almanya reden. Mir ist bewusst, dass ich mich wiederhole.
Gleichzeitig denke ich, ich sollte es nochmals sagen, auch auf
die Gefahr hin, dass Sie längst verstanden haben, worum es mir
geht.
Vielleicht wiederhole ich mich deswegen, weil es mir keine Ruhe
lässt, warum Deutschland sich so extrem schwer damit tut,
auch ein Land der Familie Arslan und der Familie Yilmaz zu sein.
Ohne wenn und aber, ganz selbstverständlich. Ich vermute,
dass das in Mölln heute so ist, aber ich spreche bewusst von
einer anderen Ebene. Mir fällt auf, dass sich noch immer
hartnäckig die Politik der Klassifizierung von Migranten in gute
und schlechte, bereichernde und Probleme schaffende,
christliche und islamische, junge und alte, ausgebildete und
ungelernte behauptet. Mit dieser Sicht geht einher, dass man
sich der Illusion hingibt, es könnte einen Masterplan für
Integration und Migration geben, eine Art Handlungsanleitung
für ein Land, das sich nicht abschafft, sondern durch tief
greifende Veränderungen in Zeiten der Globalisierung neu
erfinden muss. Und ganz sicher sind Argumente von
selbsternannten Experten wie Thilo Sarrazin & Co, die
rassistischen Vorurteile und Rassismus schüren, nicht
wegweisend.
Ich habe mich gefragt, was Ihnen, liebe Familie Arslan und
Familie Yilmaz, wohl im Zuge der Sarrazin-Debatte durch den
Kopf ging? Wie fühlte es sich für Sie an, dass da jemand 2010
Moslems als Bedrohung darstellte, weil sie schon ihrer Gene
wegen nicht klug genug für Deutschland seien, ihre Kinder nicht
in die Kitas und zur Schule schicken und womöglich in
Hinterhöfen die Einführung der Scharia in Deutschland
vorbereiten oder Frauen unterdrücken?
Nicht die Thesen von Sarrazin alleine, sondern das große
Interesse an seinen Äußerungen in allen gesellschaftlichen
Schichten, ist aus meiner Sicht das eigentliche Problem.
Erschreckend ist, dass ein Drittel der Bürger denkt, dass
"Ausländer" hier nicht hergehören. Zu diesem Ergebnis kam
eine große Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom letzten Jahr.
Darin stimmte ein Drittel diesem Satz zu:
"Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem
gefährlichen Maß überfremdet."
Genauso viele meinen, dass "Ausländer" kommen, um den
Sozialstaat auszunutzen, und dass bei knappen Arbeitsplätzen
"Ausländer wieder in ihre Heimat" geschickt werden sollten.
Sie müssen sich das mal vorstellen, in jedem dritten Kopf
schwirren rassistische Gedanken. Aber nicht nur das. Wenn Sie
genauer hingehört haben, dann beinhaltet die letzte Aussage
auch eine ökonomische Dimension. Wenn "wir" sie als
Arbeitskräfte brauchen, nehmen wir es hin, dass Einwanderer
und Migranten in Deutschland sind. Werden Arbeitsplätze
knapp, sollen sie das Land verlassen. Solche Kosten-Nutzen-
Erwägungen sind ein gefundenes Fressen für Rechtsextreme
und Neonazis. Die Journalistin und Essayistin Mely Kiyak schrieb
letztes Wochenende in der Frankfurter Rundschau:
"Rechtsextremes Denken ist in unserer Bevölkerung offenbar
unausrottbar vorhanden. Nicht die pathologisch Verrückten, die
mit einer Waffe in der Hand mordend durch die Gegend ziehen,
sind das Problem. Sondern unsere rechtsextrem denkenden
Nachbarn, Zeitungsabonnenten, Vorgesetzten, Personalchefs,
Eltern, Lehrer, Kita-Erzieher, Polizisten, Sachbearbeiter auf der
Behörde und so fort. Rechtsextreme sind keine zoologische
Besonderheit, keine Naturgewalt aus Zwickau."
Ich mag nicht akzeptieren, dass jeder Dritte in diesem Land so
denkt. Aber ich glaube trotzdem, dass auch die Tat von Mölln
keine zoologische Besonderheit und Naturgewalt war. Wenn wir
heute über die Todesopfer rechtsextremer Taten sprechen, uns
von politischen Repräsentanten dieses Landes eine
Entschuldigung und eine Verurteilung dieser Taten einfordern -
wie dies im historischen Ausmaß gestern im Bundestag
geschehen ist - dann sollten wir nicht wie damals in
Lichterketten heute in Schweige-Flasmobs enden.
Das Gebot der Stunde ist nicht Schweigen, sondern Reden.
Also reden wir darüber, wie all das Geschehen konnte und
reden wir darüber, wie rassistisch motivierte Verbrechen nicht
mehr möglich sind.
Reden wir darüber, dass der Begriff "Dönermorde"
unhinterfragt durch die Medien geistert und die Polizei eine
Sonderkommission gründet, die "Soko Bosporus" heißt, weil sie
es nahe liegend findet, dass die türkische Mafia und
Schutzgelderpresser am Werk waren, wenn Menschen in
Dönerbuden ermordet werden.
Reden wir darüber, dass man jetzt wieder ganz
selbstverständlich von "Türken" und "Ausländern" spricht, so
als ob von man Fremdkörpern in unserer Gesellschaft sprechen
würde.
Reden wir darüber, dass alle Menschen das Recht haben, für
sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben
wollen.
All das sind wir den Opfern und unsere Geschichte schuldig.
Jetzt habe ich lange gesprochen, ich hätte es ganz kurz halten
können:
Ich verneige mich vor Yeliz Arslan, Ayşe Yılmaz und ihrer
damals 51-jährige Großmutter Bahide Arslan sowie allen
anderen Opfern rechtsextremer Verbrechen und möchte, dass
Sie, liebe Familie Arslan und liebe Familie Yilmaz wissen:
Ich werde nie vergessen.
Wir werden nie vergessen.
Anders gesagt:
Asla unutmayacagim.
Asla unutmayacagiz.