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Agamben und das Ende des migrantischen Reformismus

Die neunziger Jahre sind vorbei. Die Debatte um ein Einwanderungsgesetz auch. Der bürgerliche Mainstream hat, was er will: kosmetische Änderungen, die sich Zuwanderungsgesetz nennen. Neben partiellen Verbesserungen ermöglicht es vor allem weitergehende Schikanierung der in Almanya lebenden MigrantInnen und restriktivere Möglichkeiten der Einreise. So manche Enttäuschung hätte man sich sparen können, hätte man die Texte des italienischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben gelesen. Sie geben einen Einblick in die Dimension der Verhältnisse, die in der Einwanderungsdebatte verhandelt werden und erlauben einen radikalen Eingriff in Debatten um Zuwanderung und Migration.

Seine Beschreibung der modernen Souveränität, die sich von einem "Ausnahmezustand" her definiert, bringt die scheinbar selbstverständlichen Kategorien ins Wanken, auf deren Grundlage der bürgerliche Staat Rechte vergibt und entzieht. Agamben zeigt, dass "einer der wesentlichen Züge der modernen Biopolitik in der Notwendigkeit besteht, im Leben laufend die Schwelle neu zu ziehen, die das, was drinnen, und das, was draußen ist, verbindet und trennt" (Homo Sacer, S.140). Damit öffnet sein Schreiben einen Horizont, der es ermöglicht, die Krise des Nationalstaates als das produktive Scheitern seiner Verfasstheit zu erkennen. Die staatliche Souveränität bringt ihre eigene Krise permanenent hervor, da sie das unmögliche Projekt v verfolgt, einen sauberen und homogenen Ort zu schaffen, der keine Differenzen kennt. Sie hört deshalb jedoch nicht auf zu funktionieren, sondern begreift ihr Scheitern als Antrieb zur Modernisierung, die gegenwärtig im Begriff der "Integration" auftritt. Integration dient als Waffe, die unauslöschlichen Anderen im eigenen Körper, die MigrantInnen, zu assimilieren oder mindestens zu disziplinieren.

Die Verbindung Geburt-Territorium-Staat, die seit der Erklärung der Menschenrechte 1789 die Basis moderner Souveränität bildet, wird durch die Migrierenden, die die Grenze dieser Verbindung markieren, permanent in Frage gestellt. Ihre Dislokation unterbricht die Verbindung Geburt-Territorium-Staat, die nur durch eine permanent erneuerte Kontrolllle räumlicher Bewegungen aufrechterhalten werden kann. Die Fiktion moderner Souveränität, in der Mensch und Bürger, Geburt und Nation ineinander aufgehen, wird durch ihr Auftreten verunsichert und wir können die verschiedenartigsten Versuche diagnostizieren, in denen der Souverän hysterisch bemüht ist, das Andere draußen zu halten. Den paradigmatischen Raum moderner Souveränität lokalisiert Agamben deshalb im Lager als Ort des extremsten Ausschlusses, einem Ort, an dem alles möglich ist, und in dem der Mensch - auf das nackte Leben reduziert - der Willkür der Souveränität vollllkommen ausgeliefert ist. Dieser Skandal durchzieht alle Formen bürgerlicher Herrschaft und kennzeichnet keineswegs, wie Liberale gerne glauben würden, ihren Exzess, sondern konstituiert im Inneren ihre Normalität und findet seine Kontinuität in den parlamentarischen Demokratien der Jetztzeit. Agamben erinnert daran, "dass die ersten Lager in Europa für Flüchtlinge errichtet wurden, und dass die Abfolge: Internierungslager - Konzentrationslager - Vernichtungslager eine vollkommen reale Abstammungsreihe darstellt" (Mittel ohne Zweck, S.29). Seinen exemplarischen Raum findet dieser Versuch gegenwärtig in den Abschiebelagern. Eine Perspektive kann daher nur darin bestehen, den Nexus Geburt-Territorium-Staat anzugreifen, der das Lager als monströses Dispositiv der Normalisierung hervorbringt.

Anfang der neunziger Jahre, als sich migrantische Selbstorganisation in Abkehr von herkunftsorientierter Politik verstärkt den Verhältnissen in Almanya zuwandte, wurde dem deutschen Staatsbürgerrecht, das sich aus dem "ius sanguinis" ableitet, das "fortschrittlichere" "ius soli" des französischen Staates entgegengesetzt. Dieses Argument begleitete beispielsweise Kampagnen zur doppelten Staatsbürgerschaft. Rechte, so wurde argumentiert, müssen aufgrund von Geburt auf einem Territorium, und nicht aufgrund von Abstammung vergeben werden. Es hat einiges für sich, die deutsche "Blut und Boden"-Regulierung als Relikt einer reaktionären Politik zu skandalisieren. Sicherlich bedeutet eine tendenzielle Abkehr von dieser Politik eine reale Verbesserung der Lebensmöglichkeiten der auf hiesigem Territorium geborenen nichtdeutschen Inländer. Diese Perspektive bleibt aber den hegemonialen Verhältnissen immanent und variiert lediglich den Modus ihrer Herrschaftstechniken. Indem sie den Status derer verhandelt, die es nach "Drinnen" geschafft haben, ohne die Mechanismen dessen Erzeugung anzugreifen, stellt sie moderne Biopolitik nicht in Frage, sondern verändert lediglich ihren Vollzug. Die das Bestehende infragestellende Grenze, von der Agamben spricht, verschwindet hinter den Illusionen der Realpopolitik.

Am Rand der kritischen Globalisierungsbewegung tauchen in jüngster Zeit Strömungen auf, die Migration nicht nur als Folgeerscheinung und als Reaktion auf Bedürfnisse des global operierenden Kapitals, etwa der Arbeitsmarktpolitik, bezeichnen, sondern als aktives und konstituierendes Moment, das eine eigene Dynamik hat und eigene Logiken verfolgt. Die Bewegungen der Migration erzeugen beständig transnationale Neuzusammensetzungen, die die Souveränität zwingen, zu reagieren. Diese Neuzusammensetzungen ergeben sich nicht nur aus der räumlichen Bewegung selbst, sondern auch aus Kämpfen, die versuchen, die bestehenden rechtlichen Verhältnisse im eigenen Interesse zu nutzen. Dabei kann es zur Modernisierung des Territoriums kommen, zu Reterriritorialisierungen auf großräumigeren Ebenen als dem Nationalstaat, wie das gegenwärtig im Rahmen der EU der Fall ist. Dies bedeutet nicht, dass damit keine Neudefinition von Ausschlußmechanismen verbunden wäre, sondern dass sich deren Bedingungen verändern.

Die Anerkennung der relativen "Autonomie der Migration" hat zur Folge, dass in ihr ein Potential lokalisiert werden kann, das geeignet ist, das Souveränitätsmodell der Moderne zu subvertieren. Diese Perspektive muss allerdings, ohne die Migration als neues "revolutionäres Subjekt" romantisch zu verklären, die real stattfindenden Bewegungen an ein politisches Programm einer radikalen Kritik der bestehenden Verhältnisse koppeln. Damit wäre man in der MigrantInnen- als auch in der kritischen Globalisierungsbewegung in der Lage, eine Sichtweise zurückzudrängen, die immer noch den Nationalstaat zum Drehpununkt einer Denkbewegung macht, von dem aus sich die bestehenden Ausschlußmechanismen und Verelendungstendenzen bekämpfen ließen. Das wäre das Ende des migrantischen Reformismus.

micho willenbücher