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Review
Wenn die Regulierung die Richtung wechselt...

Das mehrjährige Forschungs- und Ausstellungsprojekt TransitMigration innerhalb einer kurzen Besprechung zu fassen, stellt ein schwieriges Unterfangen dar. Zu voraussetzungsreich sind die darunter subsumierten Projekte, zu weitgehend ihre Konsequenzen. Mit dem Sammelband "Turbulente Ränder" wird jetzt ein erster Überblick von einem Projekt vorgelegt, das für die deutschsprachige migrationspolitische und -theoretische Landschaft einen Wendepunkt darstellen dürfte.

Gemeinsam ist den darin versammelten Beiträgen, daß sie sich kritisch mit konventionellen Repräsentationsmustern befassen, wie sie um den Begriff der "Migration" zirkulieren. Schon der Untertitel "Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas" ist nur dann richtig zu verstehen, wenn man sich von einem konventionellen Grenzbegriff löst, der "Grenze" als eine klar fixierbare Linie versteht, die fest definierbare Räume voneinander trennt. Ein solcher Grenzbegriff, der eindeutig den Insignien des Nationalstaates verhaftet bleibt, ist unter Bedingungen des postfordistischen Migrationsregimes nicht mehr haltbar und verschleiert sowohl die (supra-)staatlichen Praktiken der Kontrolle als auch die transnationalen Praktiken der Migration selbst. Die Rede von der "Festung Europa", wie sie in den Rhetoriken der Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen dominiert, wiederholt dabei nur das Phantasma der Kontrolle, das der Staat als seine Aufgabe behauptet und verschleiert den Blick auf die Praktiken der Migration, die geeignet sind, die Regulierungsversuche zu unterlaufen und ständig neu herauszufordern. Damit wird nicht behauptet, daß das europäische Migrationsregime nicht jährlich Tausenden von Menschen das Leben kostet oder die Brutalität der Abschiebepraktiken und des europäischen Lagerregimes verharmlost. Eine solche Skandalisierung, die auf der Ebene der politischen Auseinandersetzung strategisch funktional sein kann, verdeckt nichtsdestotrotz den subjektiven Charakter der Migration und die Fluchtlinien, die sich in alle Bereiche des Alltags einschreiben. Statt die Verhältnisse zu kritisieren, die Migration als distinktives Phänomen erst hervorbringen, zurrt sie den kollektiven Körper der Migration auf dem Prokrustesbett der Identität fest und schreibt eine Politik der Viktimisierung fort, die TransitMigration hinterfragt.

Einer solchen Dichotomisierung in ein einfaches Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen Staat und Migration verweigert sich das Projekt TransitMigration auf verschiedenen Ebenen:

Indem es sich forschungstheoretisch einem methodologischen Nationalismus entzieht, der in den Mainstream-Wissenschaften immer noch dominant ist und Migration als eine unilineare Bewegung der Abreise aus einem und der Ankunft in einem anderen nationalen Container beschreibt. Statt dessen betont TransitMigration den transnationalen und damit multidirektionalen Charakter der Migration und die Feststellung, dass die Kontrolle über die Mobilität der Arbeitskraft schon immer, dh. auch historisch, als zentrales Moment der Steuerungsversuche des Kapitalismus aufgefasst werden muß. So weisen Manuela Bojadzijev und Serhat Karakayali in ihrem Beitrag daraufhin, daß die ersten Proletarier Europas aus den Fesseln des Feudalismus geflohen waren und als "gefährliche Klassen" überall verfolgt wurden. Erst die Nationalisierung dieser Gruppen und damit ihre Reterritorialisierung ermöglichte die institutionellen Kompromisse, die heute als Lohnform und Warenförmigkeit der Arbeit wie naturalisierte transhistorische Konstanten daherkommen und den Gegensatz zwischen sesshafter und mobiler Arbeitskraft historisch konstituierten. Jenseits eines methodologischen Nationalismus jedoch stellen sie sich als Regularisierungen sozialer Auseinandersetzungen dar, die heute in einem transnationalen globalisierten Kapitalismus neu verhandelt und herausgefordert werden.

Indem die Bedeutung der migrantischen Netzwerke betont wird, zeigt sich, daß Migration entgegen dem medial dominierenden Blick nicht als das riskante Unternehmen atomisierter Individuen bezeichnet werden kann, die den Push- und Pullfaktoren der Arbeitsmärkte wie Marionetten einer unsichtbaren Hand folgen, sondern als kalkulierte Strategien multidirektionaler Akteursgruppen, die ihr eigenes Projekt ins Spiel bringen und deren Wissen mit den staatlichen Apparaten, die zu ihrer Kontrolle angetreten sind, um den entscheidenden Vorsprung konkurriert. Dieses in den transnationalen Netzwerken fluktuierende Wissen ist es beispielsweise auch, das die etablierten Codes des Menschenrechtsdiskurses modifiziert und individualisiert, um daraus angepasste Fluchtszenarien und Herkunftsidentitäten zu konstruieren, die einen Zugang zum europäischen Asylmarkt versprechen.

Daß der europäische Raum nicht einfach eine supranationale Wiederholung seiner nationalen Komponenten bedeutet, sondern mehrfach räumlich segmentiert ist, zeigen sabine Hess und Vassilis Tsianos in ihrem Beitrag. Der räumlichen Segmentierung entspricht eine ebenfalls fragmentierte Bürgerschaft, die unterschiedlichen Zugang zu Mobilität, aber auch zu politischen, sozialen und ökonomischen Standards generiert. Diese Transformationen müssen unter zwei Gesichtspunkten verstanden werden, der Gouvernementalisierung und der Exterritorialisierung. Erstere bedeutet das Eingeständnis der Bürokratien, daß Migration nicht unterbunden, sondern bestenfalls gelenkt werden kann. Die Positionspapiere der der EU nahestehenden think tanks gehen auf der Höhe der Zeit davon aus, daß nur ein pragmatischer Umgang mit der festzustellenden Unkontrollierbarkeit der Migration deren Steuerung ermögliche. Letztere bezeichnet den in diesem Kontext vorgeschlagenen Versuch, die Orte der Steuerung dem Schengenraum vorzulagern, um möglichst frühzeitig Einfluß auf die Migrationsbewegungen nehmen zu können. Diese Exterritorialisierung der Souveränität muß jedoch selbst schon als Effekt der globalen Bewegung der Migration betrachtet werden, die die Grundlagen, auf der Souveränität bisher funktionierte, tendenziell unterläuft.

Daß der Staat sich dabei transformiert und Teile seiner Funktionen in NGO's auslagert, zeugt weniger von seinem Verschwinden, denn von einer Veränderung seiner Funktionsweise, die als Übergang von Governing zu Governance beschrieben werden kann. Zentrales Element ist dabei die Erkenntnis, daß Migrationskontrolle heute nicht mehr allein als technische Implementierung bürokratischer Vorgaben verstanden werden kann, sondern auch die Herstellung von Öffentlichkeit und die Diskursproduktion umfasst. Dieser Punkt kann dann umgekehrt von der Migration produktiv genutzt werden um Passagen zu ermöglichen, wie am Beispiel der türkisch-griechischen Grenze gezeigt werden kann.

In diesem Zusammenhang kommt auch das Lagerregime ins Spiel, das an der südosteuropäischen Grenze eine unglaubliche Dichte erreicht hat. Entgegen einem an Agamben (homo sacer) orientierten katastrophischen Blick auf die Lager betonen Efthimia Panagiotidis und Vassilis Tsianos allerdings, daß die Lager heute weniger der Abschottung, sondern der Filterung dienen. Gegenüber einem Begriff des Lagers als repressivem Einschließungsmilieu bringen sie ihre Rolle als Entschleunigungsmaschinen ins Spiel, die die Geschwindigkeit bei der Ankunft der lebendigen Arbeit temporär bremsen und aus unregierbaren Strömen regierbare Subjekte formen. Das Lager als Ort einer neuen biopolitischen Grenze produziert weniger das nackte Leben wie bei Agamben, sondern die nackte Arbeitskraft, die von den Orten ihrer Reproduktion und ihrer Rechte entkoppelt wird.

Rutvica Andrijasevic beleuchtet in ihrem Beitrag, wie das Konzept der "Zwangsprostitution" den Blick versperrt auf die Anstrengungen osteuropäischer Frauen, unter den Bedingungen des europäischen Migrationsregimes geografische, soziale und Arbeitsmobilität zu verwirklichen. An Hand der Analyse der Bildpolitik, die in einer Kampagne der International Organization for Migration (IOM) in Osteuropa gegen Zwangsprostitution verwendet wurde, zeigt sie, wie der zugleich viktimisierende und kriminalisierende Diskurs über Sex-Trafficking instrumentell ist für die voyeuristische Fixierung des weiblichen Körpers als Opfer und für eine neokonservative Zuweisung des Ortes der Frau in Heim und Nation.

TransitMigration hat jedoch nicht nur die süd- und osteuropäischen Grenzregionen untersucht, die in einer abgestuften Hierarchie bereits kurz hinter Wien beginnen, sondern auch die innereuropäischen Wissens-, Blick- und Bildregime, die Migration als Objekt und als Problem erst erzeugen. So zeigen Ramona Lenz in Bezug auf den Tourismus und Marion von Osten im Hinblick auf kuratorische Praktiken, wie das kollektive Bildarchiv den Süden als Ort der Rückständigkeit repräsentiert, eingebettet in Armut, Tradition, Ursprünglichkeit und Naturnähe. Die dadurch gewonnene Dichotomie traditionell versus modern dient als konjunkturell immer wieder aktivierbarer Code, wenn es darum geht, in der Migrationsdebatte rassistische Ressentiments abzurufen oder den Ausbau staatlicher Kontrolldispositive zu legitimieren, wie aktuell in der deutschen Debatte um Integration. Daß es in der TransitMigration angedockten Ausstellung "ProjektMigration" nicht einfach darum gehen könne, dem eine objektive Sicht entgegenzustellen, versteht sich von selbst. Eher handelt es sich darum, unterschiedliche visuelle und nichtvisuelle Narrative und Bildstrategien zu verknüpfen und damit eine neue Geschichte zu erzählen.

Im Bereich der dokumentarischen Film- und Fernsehproduktion hat sich ein eigenes Genre entwickelt, das Brigitta Kuster in ihrem Beitrag untersucht. Die Topografie der Grenzen, die die Kameras heute magisch anzuziehen scheint, entwickelt ihre eigene Logik der Sichtbarmachung und des Verschwindens. Die Migration betritt die Szenerie meist als Statist, als Visualisierung einer Subjektposition, die als Hintergrund für das Voiceover eines Diskurses über Kriminalisierung, Regulation und Kontrolle fungiert oder, wie im Falle der Cap Anamur im Sommer 2004, als Inszenierung einer radikalhumanistischen Intervention in die Krise des Migrationsregimes, die sie als passive, immobilisierte Spielbälle der Macht zeigt. Aber auch Filme, die Partei beziehen und die Migranten als Protagonisten positionieren, bleiben in der Dualität zwischen dem Blick und seinem Objekt gefangen, solange sie die Realität des Filmischen als einem "Erzählen über" leugnen. Nur eine Kamera, die die Bedingtheit ihres Blickes selbst als Ausgangspunkt nähme, könnte sich den Verhältnissen nähern, unter denen das Sichtbare übersehen wird.

Abgerundet wird der Band durch die Beiträge von Peter Spillmann zu social mapping als neuer kartographischer Praxis und Regina Römhild zu einer Neubewertung des Kosmopolitismus an den Rändern Europas. Der Soundaktivist UltraRed und Manuela Bojadzijev gehen in unterschiedlichen Beiträgen dem Status der Bürgerrechte im ehemaligen Jugoslawien nach.

"Das Wort Transit bedeutet hindurchgehen, aber auch darüber hinausgehen" schreiben Manuela Bojadzijev und Serhat Karakayali in ihren 10 Thesen zur Autonomie der Migration, das die zentralen methodologischen Paradigmen des Forschungsprojektes noch einmal zusammenfasst. Das Projekt "TransitMigration" hat die Tür zum Wartesaal der Geschichte aufgestoßen, in den die Migration verbannt war und öffnet die Fläche für eine andere Erzählung, in der die Migration eine Kristallisation markiert, die nicht mehr umkehrbar ist.

zuerst erschienen in widerspruch.ch

www.transitmigration.org

TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.)
Turbulente Ränder
Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas
Januar 2007, 250 S., kart., ca. 24,80 ¤
ISBN: 3-89942-480-8
[transcript]-Verlag

Michael Willenbücher
IT-Arbeiter und Autor - Berlin